wenn einer sich verfährt


»Wenn einer eine Reise tut …« und dabei den Gedanken nachhängt, kann das auch schon mal in unbekannten Gefilden enden. Ich liebe es, unterwegs zu sein. Im Auto zu sitzen und für fünfhundert Kilometer alle Notwendigkeiten anzuhalten. Wie auf einer Reise zu mir. Zu Beginn krabbeln die frischesten Schmisse an die Oberfläche und laufen salzig über Wangen. So viel, dass mein Make up nicht komplett ruiniert wird und so viel, dass Wegfahren sich erlösend anfühlt.

Ist das erledigt, bahnen sich Ideen ihren Weg, die in mir herum spuken. Wie Maiskörner, die in der Hitze liegen, ploppen sie eine nach der andern auf. Plopp-plopp-plopp. Dem süßen Märchenbrei gleich, nicht enden wollend, weil ich den Zauberspruch fürs Aufhören nicht weiß. Vielleicht hält mich das im Leben. Einer Triebfeder gleich. Das könnte ich doch. Und da müsste ich mal. Und vielleicht wäre das auch was. Oder dies?

Zwischendurch platzen Gedankenknospen und Worte fliegen mir durch den Kopf, die ich mit aller Macht festhalten will. Formulieren sich federleicht. Schweben vor den inneren Augen. Gerade geborenen, spreche ich sie wie ein Mantra vor mich hin. Habe Sorge, sie könnten verschwinden, denn sie gehen, wie sie kommen. Erlöst bin ich, wenn ich stehenbleiben und sie notieren kann. Sind sie gesichert, fahre ich weiter. Sobald alle zu Ende gedacht sind, kann mein Kopf sich wieder auf den Weg konzentrieren. Meistens.

Was passiert, wenn ich das nicht tue, habe ich erst neulich erfahren:

Ich bin auf dem Weg nach Berlin. Kenne die Strecke im Schlaf. Fahre vor mich hin, als säße ich auf Schwingen, die mich tragen. Lasse mich von Rückleuchten hypnotisieren, denen ich folge, als zeigten sie mir den Weg.

Als ich klein war, wollten auch alle Leute, die in der S-Bahn saßen, zur selben Zirkus- oder Theatervorstellung, wie ich. Meine Mutter muss es sehr amüsiert haben, wenn ich sie laut fragte, ob das Zirkuszelt denn auch groß genug sei, damit alle Leute, die in der vollen Bahn sitzen, hineinpassen. Mit der selben Naivität gehe ich heute davon aus, dass alle Wagen auf der Autobahn das selbe Ziel haben. Kann ich mir nur so erklären.

Als ich so vor mich hin fahre, bemerke ich plötzlich, dass sich in einem Baustellenbereich die Spuren teilen. Nach rechts zweigt die Abfahrt in eine Stadt, in die ich nicht will und links … tja, hier sperrt eine Umleitung die Weiterfahrt. Wieso bauen die ausgerechnet mitten im Jahr an dieser Strecke herum? Wundere ich mich, aber pariere. Wir Linksabfahrer drehen eine Schleife, deren Schneckentempo oberhalb über die gesperrten Spuren führt. Ich sehe leicht verstört nach links und erkenne, dass die Autobahn unter uns wie abgeschnitten aussieht. Dahinter nur Bauland. Wieso schneiden die plötzlich die Straße weg? Und warum hat mir das niemand gesagt?

Verwirrt überfahre ich weitere Spuren, folge den Wagen vor mir und schleiche brav die Landstraße entlang. Ich mag’s Überland und tauche meine Blicke in die weite Landschaft. Birkenbäume stehen bis zum Bauch im Rapsfeld. Eine Märchenbuchwindmühle winkt uns zu. Ich würde sie gern photographieren, bin jedoch mit Verkehr im Nacken relativ reaktionsarm und will auch den sicheren Hafen der Verkehrsschlange nicht verlassen, da ich mich zwischen den anderen Fahrzeugen gut aufgehoben fühle.

Ich habe keine Ahnung, wo wir sind. Ein braunes Denkmalschild erzählt von einer Burg. Kurz durchzuckt mich die Idee, für mein Märchenprojekt doch vom Kurs abzukommen und für einen Recherchebesuch anzuhalten. Steinwände will ich anfassen. An ihnen riechen. Die Atmosphäre wirken lassen. Vielleicht ja auf dem Rückweg?

Ich bleibe in der Schlange. Schlangen verschaffen mir ein Zu-Hause-Gefühl. Langsam vermute ich, dass ich an einem entscheidenden Punkt auf der Strecke bei der Orientierung versagt habe. Entscheidend versagt. Nicht, dass mir die Fahrt nicht gefallen würde und so absolut verkehrt kann ich kaum sein. Theoretisch muss ich irgendwo bei Leipzig auf die A9. Ich schalte das Radio an. Im Verkehrsfunk sagen sie Stau an. Zwanzig Kilometer. A9, ab Leipzig bis irgendwo. Das tröstet mich, denn ich fahre lieber wahllos durch die Gegend und staune über Rapsfelder, als still zu stehen.

Ich fahre weiter obwohl ich weiß, dass ich geografisch eine Niete bin. Wenn Hinweisschilder kommen, reagiere ich nach Gefühl, ohne sicher zu sein, ob die Richtung stimmt. Immerhin bin ich klug genug, um zu kapieren, dass München zwar eine willkommene Richtung wäre, aber für die heutige Fahrt unangebracht. Leipzig steht nirgendwo.

Unter uns gesagt, ich kann es nicht leiden, umzudrehen. Das mach ich nie. Wenn ich mich verfahre, was mir dann und wann passiert, bleibe ich meistens so lange auf Kurs, bis ich den nächstmöglichen Weg finde, der mich meinem Ziel näher bringt. Auch bei Spaziergängen laufe ich lieber Kreise, als den selben Weg zurück zu nehmen. Ich finde das spannend und es regt es mich nicht auf. Dafür regen sich andere darüber auf. Egal. Das war schon in der Schule so. Träum nicht! Pfff. Träumen ist toll!

Das zeigt sich auch, als mir nur knapp ein traumhafter Anhalter entgeht. Als wir, also die Autoschlange und ich, in eine Stadt einfahren, kommt es zu einem Bremsmanöver. Der Kleinwagen vor mir hält, aus für mich zunächst unerkennbaren Gründen, plötzlich an. Die Einfahrt der Tankstelle hatte er, bzw. die Fahrerin in ihm, passiert, doch an der Ausfahrt den smarten Anhalter entdeckt. Ich seh ihn erst, als ich nach links ausschere und den Kleinwagen verwundert überhole. Braun gelockte, lässig bis zum Kinn schaukelnde Haare umrahmen ein anziehendes Gesicht mit verführerischen Augen. Ja, für so etwas habe ich auch im Vorbeifahren einen Blick. Vor seiner Brust hält er lässig das Schild mit der Aufschrift BERLIN.

Mist, die war schneller als ich, sinniere ich kurz. Aber in dem Fall meiner Weiterfahr-Manie entgegenzuwirken, um ihr den Anhalter wegzuschnappen, käme merkwürdig. Das sehe ich ein. Und so bleibt in den nächsten beiden Stunden immerhin genug Futter, um mir die Fahrt mit jungem Mann daneben vorzustellen. Natürlich hätte ich die leeren Gummibärchentüten, benutzte Servietten, leere Engergy-Drink-Dosen und Brotkrümel vorher vom Sitz gefegt. Hach. Eine Berlin-Beifahrer-Romanze hätte gut in den Tag gepasst. Immerhin bin ich auf dem richtigen Kurs. Ich fahre … und träume.

Und siehe da, plötzlich ergibt sich eine Auffahrmöglichkeit. Nicht auf einen Wagen vor mir. Nein. Auf die A9. Super. Leipzig habe ich umfahren. Und mit der Stadt den Stau. Jetzt kann ich das Gehirn wieder ganz ausschalten, mich den Rückleuchten hingeben und … singen. Ja singen. Ich liebe es, beim Autofahren mit den Helden oder Nena in Erinnerungen zu schwelgen. Zum Beispiel Nena … Fliegen. Das verbinde ich mit Nordseestrand und braunen Augen. Sonne auf der Haut und nichts als Meer und mehr. So fliegt die Straße unter mir dahin.

Siebzig Kilometer vor Ziel stoppt meine Reise im Stau. Etwas, dem ich die ganze Zeit entgangen war. Und nun, so kurz vor der Heimat. Nun denn, ich informiere meine Familie per SMS: Noch 70 km. Stau. Zurück kommt: Ach du Arme! Weil verstanden wurde, ich stünde im 70 km langen Stau. Ich grinse.

Nach ner halben Stunde kann ich wieder Gas geben. Ich mag den letzten Teil der Strecke. Ja. Und als ich am Schönefelder Kreuz auf der rechten Spur bin, die abzweigt, sehe ich den Wagen auf der Geradeaus-Spur nachdenklich hinterher. Und begreife in dem Moment, dass das eigentlich auch meine Richtung gewesen wäre. Die nach Geradeaus. Meine Jüte! Hier bin ick doch noch nie falsch jefahren.

Ich nehme sofort die nächste Abfahrt, weil ich sonst in Berlins Rushhour landen würde. Umdrehen will ich wieder nicht. Lieber meinen Weg finden. Nun schüttle ich doch den Kopf über mich und hoffe, dass meine heutiges Manöver irgendeinen Sinn haben wird. Vielleicht bin ich einem Unfall entgangen? Möglich ist alles. Ich bleibe zuversichtlich auf der Landstraße. Lese Namen von Orten, zu denen ich vor fünfzehn Jahren noch einen Bezug hatte. Weiß darum, dass die Gegend hier irgendwie mit weitläufiger Heimat zu tun hat. Ich bekomme nur nicht mehr in meinen Kopf, in welche Richtung ich genau muss. Folge weiter meinem Gefühl. Fahre durch Dörfer. Freue mich über blühende Fliederbüsche und Vier-Seit-Höfe, weil ich deren Toreinfahrten so liebe. Und siehe da. Irgendwann wieder ein Hinweis auf die Autobahn. Und auf die richtige Spur.

Von da an ist alles ein Kinderspiel, weil ich mich für die letzten zwanzig Kilometer nun doch etwas mehr konzentriere. Zwei Stunden nach Normal schließt Mama mich in ihre Arme. Hat das Essen warm gehalten. Ja. Quatsch. Das war früher. Heute schiebt sie es in die Mikrowelle. Das mit dem Warmhalten wäre ich eher, weil ich keinen Mikrowelle dafür aber eine Kochmaschine habe, die ich mit Holz befeuere. Allerdings. Meine Mama kommt nie zu spät und fährt nicht nach Gefühl. Ach. Und meistens bleibt die Küche bei mir sowieso kalt.

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