In der Ferne wirbelt Staub auf. Steppenland umgibt die Schule. Totenstille. Nur die herannahende Maschine grollt und macht mir Angst. Was ist das? Wer steuert es? Wo bin ich überhaupt?
Farbe blättert auf meine Nase, als ich mich gegen das verzogene Holz dränge und die Umgebung vor dem Gebäude beobachte. Die können mich nicht gesehen haben. Was wollen die bloß? Das Türblatt hängt schief in den Angeln. Das Holz ist rissig, unter der Farbschicht silbern. Also wird es Eiche sein. Oder Kastanie, denke ich, weil mir mein Zaun einfällt, den ich für meine Ziegen aufgerichtet … wie lange ist das her? Er hatte die gleiche Oberfläche angenommen, wie die ältesten Eichenbalken am Pferdestall. Ein Stall, der längst keine Tiere mehr beherbergt. Nicht wie damals, als die Holzfäller noch mit Rössern in die umliegenden Wälder zogen. Nach dem Tagwerk kehrten sie in die Wirtschaft ein und stellten ihre Gäule in den Stall. Später hielten nur noch staubgeschwängerte Spinnweben ihre Erinnerungen in allen Winkeln der einstigen Herberge fest. Ich versuche mich zu erinnern, wie lange das zurück liegt. Habe kein Gefühl für Zeit. Keine Orientierung. Wo bin ich überhaupt?
Die Sonne sengt auf den vergilbten Bau. Die Wände im Innern sind unverkleidet. Wo ich mich dagegen lehne, rieselt oder bröckelt es. Dass diese Schule überhaupt noch steht … Immer wieder Donnergrollen unter der Staubwolke, die bedrohlich näher kommt. Ich muss weg. Kann nicht länger hier stehen und aufpassen, obwohl mir meine innere Stimme sagt, dass ich es müsste. Es MUSS meine Aufgabe sein, ist alles, was ich im Gefühl habe, ohne zu wissen, wer sie mir gestellt hat. Und warum. Plötzlich muss ich an meine Tochter denken. Ist sie hier irgendwo?
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Ich bin unters Dach geflüchtet. Hocke auf dem Klo. Der winzige Messingriegel sticht meine Blicke. Er wird nichts abhalten, wenn es soweit ist. Wenn jemand die Tür aufreißen will, kann er das tun. Die Beine habe ich angezogen. So sieht mich niemand, wenn er sich außerhalb auf den Bauch legen würde, um Füße in besetzten Klos aufzuspüren. Ich höre das Grollen der Maschine bis hierher. Warum bekommt es im Haus niemand mit? Wo sind denn alle? Ich hätte sie warnen müssen. Feigheit verabscheue ich. Ich verabscheue mich. Hocke weiter auf dem Klo und fixiere den Messingriegel.
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Der Alarm reißt mich aus den Gedanken. Ein schreckliches Tröten erinnert an Hupen aus Schwarz-Weiß-Filmen. Ein Ton bohrt sich in meine Gehörgänge. Er bohrt, um im Innern meines Kopfes zu zerplatzen. Sofort kommt ein weiterer hinterher. Immer wieder. Ich spüre den Wahnsinn, der sich in die Lücken meines Hirns drängen will. Lauter, immer lauter hallt und dröhnt der Alarm in mich. Dann mischt sich Fußgetrappel in das Getöse. Treppen hinauf und hinunter. Immer mehr. Also bin ich doch nicht allein. Das Zerplatzen hört auf. Der Wahnsinn zieht sich sabbernd zurück. Ich halte den Atem an. Kein grollender Donner mehr zu hören. Die Maschine scheint angekommen zu sein. Der Motor abgestellt. Darum der Alarm? Ich hätte sie warnen können. Ich mieser Feigling.
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Zaghaft schiebe ich den Riegel zur Seite. Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist. Merke nur, wie sanft die Stille mich wiegt und hinaus lockt. Sieh nach, was geschehen ist, flüstert sie mir zu und ich gehorche.
»Ach hier bist du«, sagt ein kleiner Mensch, dessen Gesicht ich nicht erkennen kann. Die Stimme gehört einem Teenager. Ich schleiche gerade auf den ersten Stufen hinunter, als er mir entgegenkommt, »wir suchen dich schon überall. Du solltest doch Posten stehen. Warum hast du ihn verlassen?«
Ich reiße meine Augen auf, will sein Gesicht sehen. Nehme das gleißende Licht war, das sich im gesamten Gebäude verteilt hat, als wäre es ein eigenständiges Wesen, würde alle Winkel befliegen. Staub im Schleier. Sehe klar die Treppenstufen. Risse in den Wänden. Asseln, die in Ecken stieben. Aufgeregt Wände erklimmen. Jetzt fällt mir auf, wie viele es sind. Sie ergeben ein Flussbild. Seitenarme. Schwarz und krabbelnd. Doch seine Gesichtszüge erkenne ich nicht. Keine Nasenwölbung, kein Wimpernkranz, kein rosiges Lippenspiel. Nur ein blasses Oval, dunkel gerahmt. Er muss dunkle Haare haben. Warum kann ich sein Gesicht nicht sehen?
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»Es war nur einer der Lehrer«, sagt meine Tochter mir tröstend »es ist also nichts passiert, Mama«
Klar und deutlich lacht ihr Gesicht mich an. Hinter ihr drängen Schüler aus den Gängen. Hinunter. Hinunter. Zur Tür, die vermutlich aus den Angeln fällt, wenn diese Menschenmasse ins Freie quillt.
»Kommst du mit, Mama? Wir dürfen kurz hinaus und uns die Beine vertreten«.
Der Lärmpegel bohrt sich erneut in meinen Schädel. Bohrt und platzt auf. Tausende Stimmen und Schritte fallen die Treppen hinauf und hinunter, prallen an Wänden und Decken ab, um sich wie ein Tornado zu sammeln. Der dreht sich, dreht sich, bis seine Spitze, klein und einer Spritze gleich, meine Ohren attackiert. Und der Wahnsinn reibt sich die Hände und sucht sich seinen Platz.
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Der Mann sieht gut aus. Wildes Haar. Von der Sonne geblichen. Strahlend blau lachen seine Augen bei jedem Wort. Die Haut gegerbt, spannt seine Brust sich unter dem weißen Shirt. Das ist ein Lehrer, frage ich mich und lasse ihn keine Sekunde aus den Augen, wie er meine Tochter ansieht und immerzu lacht.
Ein Strom von Schülern verteilt sich zwischen Bäumen. Im Schatten. Über Grasinseln, die von umgestürzten Bäumen, einem Mikadospiel gleich, belegt sind.
Ich gehe still mit. Folge dem Strom, ohne zu fragen, wo wir hier plötzlich sind. Eine andere Frau hat den Ruhm eingesteckt. Hat mutig die Tür bewacht und allen Bescheid gesagt, als dieses motorgetriebene Monstrum sich der Schule näherte. Wie viele wissen nun, dass ich zu feige war? Und woher wusste sie es denn? Wieder sie, die Gott und die Welt rettet.
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Als wir alleine sind, greife ich mir den Lehrer. Die anderen stecken zwischen den Bäumen. Sitzen auf ihnen. Liegen im Gras. Weit genug weg von uns. Ich fühle, dass mein Mut zurück kehrt. Du wirst meine Tochter nicht anfassen, sage ich mir und sage es ihm. Bohre ihm meine Blicke in sein Blau, das nun eiskalt und leblos wirkt. Ich greife sein Shirt. Halte ihn mit einer Hand, mit der anderen will ich meinen Zeigefinger in ihn bohren. Ihn antippen, mit jedem Wort, das ihm sage, auf seine Brust klopfen. Doch ich klopfe ins Nichts. Der weiße Stoff gibt nach. Bei jeder Berührung. Als würde ich gegen einen schwingenden Vorhangstoff tippen. Sein Blick lässt mich nicht los. Kalt und leblos. Gefrorenes Lächeln. Blau. Mir stockt der Atem, dann reiße ich sein T-Shirt hoch.
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Wir sind im Motelzimmer. Meine Tochter duscht. Ich will packen und weg aus dieser Welt mit ihr. Denke an die verkohlte Haut des Lehrers, die bis zu seinem Brustbein reichte. Darüber klaffend ein monströses Loch, als wäre eine Kanonenkugel, wie Münchhausen sie einst flog, in ihn geschlagen. Ich denke an seine Berührung, als er mein Handgelenk griff. Es fest umklammert hielt, mit Eiseskälte in mich sah. Kein Wort, sollte das heißen, nicht ein einziges Wort.
Warum habe ich sein Gesicht erkannt? Warum das meiner Tochter. Wieso die der anderen nicht? Ich lausche dem Plätschern des Wassers und beruhige mich ein wenig. Die Reisetasche steht auf dem Bett. Ich weiß nicht, was ich einpacken soll, weil es nichts gibt. Nur mich und mein Kind. In einer Welt, die ich nicht verstehe. In einem Land, das ich nicht kenne. Ohne Zeit und Gesetz. Nur dieses Schulgebäude. Sandsteingelb und rieselnd. So gelb und rieselnd wie die Landschaft, die es umgibt. Ich frage mich, wo der Wald ist, als es plötzlich klingelt.
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»Gib mir deine Hand«, sagt der Lehrer. Lehnt gut aussehend im Türrahmen des Motels. Die messingfarbene „3“ hängt schief an dem grauen Holz. Draußen tanzt das lebendige Licht. Seine Augen schauen mich milde an. Er lächelt und wiederholt, »gib mir bitte deine Hand«
Wie hypnotisiert hebe ich meinen linken Arm leicht an. Hänge an seinen Augen. Das Wasser plätschert in der Dusche. Sie wird sich wohl die Haare waschen, denke ich und lasse den Lehrer meine Hand nehmen.
»Weißt du, wer wir sind«, fragt er, »du weißt es gar nicht, oder?«
Ich schüttle den Kopf. Hinter meiner Stirn ist es absolut still. Kein Tornado. Keine Spritzen. Seit er meine Hand hält.
Ich denke an das Nichts in ihm. Das gewaltige Loch. Seine verbrannte Haut. »Du bist tot«, flüstere ich und er nickt mitleidig. Sieht mich fest an.
»Wir sind es alle«, antwortet er und dreht meine Hand herum, so dass die Pulsseite nach oben zeigt. Mit der anderen Hand streift er mir eine Haarsträhne hinters Ohr, die in meinem Gesicht hängt und meinen Blick schützen will, »sieh hin«, flüstert er, während sein Daumen sanft über meinen Puls streicht und an den weißen Narben entlang fährt, die ich nie zuvor gesehen habe.
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Zart und klein laden mich zwei weiße Narben ein, Erinnerungen wachzurütteln. Die ich nicht finden kann. Als wäre alles ausgelöscht. Ich spüre die Hand des Lehrers und will ihm sagen, dass ich das nie getan habe. Dass ich nur manchmal daran dachte … Doch so wissend ruhen seine Augen auf mir, dass ich glauben muss, was er mir zeigt. Das Wasser hat aufgehört zu plätschern. Das Motelzimmer hat sich um mich herum aufgelöst. Ich stehe hinter der Tür. In der Ferne wirbelt Staub auf. Steppenland umgibt die Schule. Totenstille. Nur die herannahende Maschine grollt und macht mir Angst. Was ist das? Wer steuert es? Wo bin ich überhaupt?