Gefangen in der Schönheit von Zuneigung
verloren in der Gefahr von Zuneigung
außerhalb engster Familienkreise
füttern wir mit Unschuldigen
graue Wölfe im Schafspelz
und setzen den Anfang
für ein Leben ohne
Vertrauen darin
Gebauer steht hinter dem Vorhang und beobachtet unruhig die Straße. Langsam fragt er sich, ob das Mädchen noch kommt.
»Erich? Was machst du so ewig in der Schlafstube? Solltest du nicht kochen?«, die Stimme bohrt sich durch das Schlüsselloch und dringt in seine Anspannung wie in einen Korken.
Erschrocken dreht er sich um. Obwohl er weiß, dass sie ihn nicht sieht, fühlt er sich ertappt. Als würden ihm seine Gedanken sonst aus den Ärmeln rutschen, schließt er die Hände zu Fäusten. Er spürt das Flattern in seiner Brust. Schnell verlässt er den kältesten Raum des Hauses und betritt die Wohnstube.
»Ich fange gleich an. Ich habe nur den Schneeflocken zugesehen.«
Mit hängenden Schultern steht er vor ihr. Es riecht nach ranziger Haut, »soll ich das Räuchermännchen anmachen«, fragt er rasch und geht zum Schrank.
»Den Schneeflocken? Du alter Kindskopf! Und wovon werde ich satt? Ja, von mir aus. Mach es eben an. Wen kümmert schon, dass wir bald Ostern haben und ich umringt von Weihnachtskram hier liege?«
***
»Geh doch Tante Ella heute besuchen«, schlägt sie ihrer Enkeltochter beiläufig vor und stellt das Radio leiser. Hans Rosenthal verabschiedet die Zuhörer vom Sonntagsrätsel und die neunjährige Valerie sitzt vor dem Kachelofen und sortiert Lackbilder.
»Ich habe dir doch erzählt, dass sie Silvester gestürzt ist. Das komplette Bein im Gips«
Das Mädchen schürzt nachdenklich die Lippen und legt das Sammelheft auf die Ofenbank, »das ist eine gute Idee!«
»Sicher kannst du dort gleich Mittag essen, sei nur zum Kaffeetrinken pünktlich wieder hier. Dann sind die Männer zurück und die Familie muss komplett sein.«
»Ich weiß, Oma. Ich bin dann wieder da. Soll ja keiner schimpfen müssen.«
»Und lass die Schuhe draußen stehen, wenn du zurück kommst, vergiss das nicht wieder!«
»Jawohl, Oma.«
Valerie verlässt die warme Küche und tritt hinaus in die kalte Veranda. Ihr Parker ist steif vor Kälte. Die Stiefel noch feucht vom Morgen im Schnee. Doch sie lässt sich liebend gern auf die Zitterpartie ein. Wo sie jetzt hingeht, wird es warm sein. Nicht nur am Ofen. Opas Cousin hat immer ein freundliches Gesicht, und hat noch nie mit ihr geschimpft oder sie wie einen Nichtsnutz behandelt.
Sie läuft zur Dorfmitte. Bis zum hellblauen Zaun. Dann stößt sie das verschnörkelte Tor mit der Nummer Sieben auf und lässt es hinter sich ins Schloss fallen. Mit wenigen Sätzen ist sie am Entenstall und sieht hinein, »Halohoooo!«, ruft sie übermütig und springt danach drei Schritte der Katze hinterher und anschließend hinter das Haus.
»Onkel Erich, Onkel Erich!«, ruft sie und hüpft die Stufen hinauf. Sie schlägt mit den Fäusten gegen die Haustür.
***
Gebauers Herz klopft. Endlich! Er holt tief Luft, dann öffnet er.
»Ich will einen Krankenbesuch machen«, sprudelt es aus dem Mädchen. Noch bevor er etwas erwidern kann, legt es seine Arme um ihn, »freust du dich?«, die Mütze fällt dabei zu Boden.
»Das ist eine gute Idee«, antwortet er und das Flattern in seiner Brust wird stärker. Behutsam löst er Valeries Arme und schiebt sie leicht von sich. Er hebt ihre Mütze auf, dann streicht er ihr über den Kopf. Ihre Haare glänzen. Sind braun wie Kastanien. So wie seine früher.
»Komm«, sagt er heiser, »es wird kalt«, dabei zieht er sie in die Küche und weiter zur nächsten Tür, »Ella, sieh mal, wen ich für dich habe!« Er gibt Valerie einen leichten Schubs hinein.
Das Mädchen bläst verlegen in die kalten Hände und sieht sich um. Die Stube ist dunkel. Das Gipsgebilde auf der Couch wie ein eigenes Wesen. Die ganze Tante Ella ist kaum länger als das Bein. Sie schluckt.
»Na, das ist ein hübscher Besuch für mein olles Bein. Komm nur her Kleine, setz dich zu mir. Onkel Erich lass machen, der hat Küchendienst!«
»Ich muss Holz nachlegen«, pflichtet er seiner Frau bei und bleibt zurück, »Valerie, isst du mit uns? Es gibt Eierkuchen.«
***
»Wie lange muss sie denn noch auf der Couch liegen, Onkel Erich, sie ist überhaupt nicht fröhlich, nicht einen Witz hat sie mir heute erzählt.«
»Das wird noch eine Zeit dauern. Bei alten Menschen wachsen die Knochen nicht so schnell zusammen. Die kleene Ella braucht eben Geduld«, er streicht ihr über den Kopf, »und wir auch.«
»Kleene Ella«, Valerie kichert, »wie ihr das immer sagt, du und Oma – sie kann ja nichts dafür, dass sie so klein ist. Macht ihr das nichts aus?«
»Keine Sorge – außerdem hat sie es nicht gehört. Die Tür ist zu und sie schläft.«
»Achso, ja – hm«, Valerie steckt sich eine Haarsträhne in den Mund und kaut darauf herum. Dann springt sie auf und greift nach ihrer Jacke, »ich werde jetzt wieder. Zum Kaffeetrinken muss ich zurück sein, sonst gibt’s Saures.«
»Nein, warte noch einen Moment, ich hole nur etwas Holz nach, damit die Küche warm bleibt – haben dir die Eierkuchen geschmeckt?«
»Ja! Fabelhaft waren die! Zuhause bekomme ich keine. Papa mag sie nicht und Mama macht sie darum nie – leider.«
»Weißt du was, wenn du Lust darauf hast, komm einfach zu uns! Ich backe dir so viele, wie du essen magst.«
»Ooooh, wirklich?! Danke! Also … beeilst du dich? Ich habe wirklich nicht mehr viel Zeit.«
Das Mädchen steht mit verschränkten Händen vor der Wohnzimmertür, »hoffentlich geht es ihr bald wieder gut«, sagt sie leise, dann wandert ihr Blick zur Küchenuhr, »oh, jetzt muss ich wirklich los. Die warten sicher schon …«
Onkel Erich kommt herein und trägt Buchenscheite auf dem Arm.
»Valerie?«, er legt das Holz hektisch ab und stellt sich vor sie.
»Ja?«
»Hast du den Onkel Erich eigentlich ein bisschen lieb?«
Sie sieht ihn verwundert an und sucht einen Moment in seinem Blick den Grund für diese plötzliche Frage. Dann lacht sie und antwortet mit leuchtenden Augen, »Ja! Ganz doll hab ich dich lieb!«
***
Gebauer steht hinter dem Vorhang. Seine Hände zittern. Das Herz schlägt bis zum Hals. Sie hat ihn doch angelacht. Ja, ganz doll hab ich dich lieb, hat sie geantwortet … und dann? Was sollte das Geziere? Wenn man jemanden liebt … dann küsst man ihn.
Irgendetwas ist schief gelaufen. Als er ihre Zunge schmecken wollte, zerbrach etwas in ihrem Blick. Als er ihr unter das Hemd griff, riss sie sich los.
Er schließt die Augen und hört sich selbst, wie er sie anfleht. Sag’s bitte keinem! Und er spürt ihre zarten Ansätze in seiner Hand. Sie war viel zu weit entwickelt für ihr Alter, das musste ihr doch klar sein, und doch so unschuldig. Kastanienbraun und glänzend. Irgendjemand musste doch den Anfang bei ihr machen …
»Erich? Was machst du schon wieder in der Schlafstube?«
Kaum merklich zuckt es um seine Augen, und ohne sich umzudrehen, flüstert er, »ich komme Ella, es hat ja längst aufgehört zu schneien.«
***
Valerie stürzt in die Veranda. Vier Stufen hinauf. Die Stiefel! Hinuntergestolpere. Keine Luft. Tränen. Wegwischen. Rufen. Endlich geht die Tür zur Küche auf. Die Mutter lächelt sie an, da bist du ja. Die Großmutter steht dahinter.
»Ich … habe mich losgerissen, er hat mich geküsst, wie bei einer Hochzeit – seine Zunge und seine Hände – mein Unterhemd – ich darf es keinem erzählen …«
»Wieso kommst du erst jetzt?«, platzt die Großmutter dazwischen.
Valerie steht aufgelöst in der Eingangstür. Mutter und Oma vor ihr.
Sie wiederholt noch einmal stockend, was geschehen ist, »… ich bin den ganzen Weg gerannt.«
Die Frauen sehen sich an, mustern Valerie. Die Großmutter schüttelt den Kopf, »das ist doch Quatsch! Der Onkel Erich hat dich einfach lieb, so wie wir – wie ging es eigentlich Tante Ella?«
Die Mutter steht und schweigt. Sorgen in den Augen und stumm.
Ein Gedanke zu “kastanienbraun”