anton, cäcilia & der geist der weihnacht


1 – Anton und Cäcilia

»Mit den Pausbacken siehst du viel zu sehr aus, wie ein Mensch aus der Massenhaltung.«
»Massenhaltung?«
»Ja. Ich meine die, die gemeinschaftlich eingelullt werden. Satt und zufrieden fallen sie auf großflächig angelegte Marzipankartoffel-Verdummung herein und bekommen Backen und Bäuche wie wir.«
»Du sprichst in Rätseln«, antwortet Anton kopfschüttelnd, räkelt sich nackt auf seiner Wolke und beobachtet durch das silberne Fernrohr weiter die Erde. Er hört, wie der Motor im Inneren des Metallgehäuses leise summt. Zwei Himmelstaler hat er hinein gesteckt, um sich den Ort herauszusuchen, an den er in diesem Jahr den Geist der Weihnacht bringen will.

»Ich könnte deine Backen wegpusten«, setzt Cäcilia kichernd nach, »und deinen dicken Wanst gleich mit.« Ihre schillernden Locken wippen im Takt, während sie auf der Wolke über ihm sitzt und ihre Beine baumeln lässt. Auf ihrem Schoß hält sie eine kleine Harfe, der sie bei jedem Wort mit ihren Fingern ein paar Töne entlockt. Staub wirbelt beim Berühren von den Saiten auf. Er glänzt wie Gold und rieselt auf Anton herab.
»Hatschi – Hatschi – Hatschi.«
»Verzeih, lieber Anton, ich hätte das alte Ding entstauben sollen. Wo ich es doch immer nur an diesem einen Tag heraus krame, um die Menschen etwas rührselig werden zu lassen. Hach ja …«
»Schade eigentlich.«
»Was meinst du damit? Dass ich das ganze Jahr über kein Staub wische?«
»Nun ja, ähm …«
»Was willst du damit sagen? Bin ich etwa ein vierzig Pfund schwerer Engel geworden, um so weiter zu machen, wie davor? Ich bitte dich. Ich sehe aus, wie ein Wohlstandsbaby. Habe kitschige goldene Locken und nichts anzuziehen. Wenn ich da an meine wahrhaft goldenen Zeiten als schlankes Reh denke …«
»Schlankes Reh? Du warst kein Reh, du warst eine Zimtzicke auf Pumps! Und so weit ich weiß, hast du den Staub in deinem Leben von anderen wegputzen lassen.«
»Sag ich doch …«, Cäcilia plustert ihre Flügel auf und steht wie ein zum Rollmops verkleideter Kolibri in der Luft. Dann holt sie tief Luft: »Wenn du dich nicht sofort von mir verwandeln lässt, lieber Anton, spiele ich so lange auf diesem hässlichen alten Ding herum, bis alle Menschen heulend von diesem Fest die Nase voll haben. So!«
»Ja, so wie jedes Jahr, liebste Cäcilia«, antwortet Anton ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen, »das schaffst du ja in vielen Familien nahezu bravourös«, er sucht weiter die Erde ab, »und gib es schon zu«, setzt er fort. Dabei hält er inne, dreht sich auf den Rücken und sieht nach oben zu Cäcilia, die mit leuchtend rotem Kopf wild mit den Flügeln schlägt. Sein Feigenblatt vibriert, als er lachend sagt, »… es macht dir Freude. Und zwar so sehr, dass du das so genannte ‚hässliche Ding‘ bereits an den Tagen vorher schon aus seinem Koffer holst und für so manches Vorweihnachtsdrama da unten sorgst.«
»Pfff … Wer sagt denn so was?«
»Das sagt keiner. Ich weiß es einfach. Schließlich warst du vor über hundert Jahren schon eine egozentrische Diva und ich ein viel gerühmter Detektiv. Hast du das vergessen?«
»Pfff … wir sehen uns schließlich jedes Jahr hier. Wie soll ich das vergessen haben? Sag mir lieber, wieso du hier der einzige bist, der seine Mitte hinter einem Feigenblatt verbirgt.«
»Das geht dich nichts an! Und im Übrigen musst du es dir nur mal ansehen, Cässi. Jeder Himmelstaler lohnt sich für einen Blick auf die Erde. Und so wie du unerlaubt seit einer Woche die Harfe zupfst, gucke ich klammheimlich in die Tiefe. Und ich sehe genau, wen deine Musik verzweifeln lässt.«
»Na, so was aber auch. Der Herr Detektiv. Darf ich mal laut lachen?«
»Darfst du. Komm her zu mir. Guck da durch und lache laut. Wenn du es dann noch kannst.«

***

»Das ist wirklich heftig.« Cäcilia klingt verschnupft, als sie das sagt. Das Summen im Inneren des Fernrohrs hat aufgehört. Die Zeit ist abgelaufen und Anton muss sich entscheiden, zu wem er an diesem Abend auf die Erde fliegt.
»Du lachst nicht mehr?«, fragt er und sieht sie mit hochgezogenen Brauen an. Seine Pausbacken leuchten rot.
»Na, ja«, antwortet Cäcilia, »obwohl ich die meisten Menschen nicht leiden kann …«, sie seufzt, »finde ich, dass einige wirklich für heute Abend deinen Beistand bräuchten.«
Sie denkt nach, lässt sich auf ihre Wolke plumpsen, legt die Harfe zur Seite und sieht zu Anton hinunter. Leise fragt sie: »Was ist mit dem Jungen, der gestern seine Eltern verlor und im Krankenhaus liegt? Was ist mit der alten Frau, die das erste Jahr ohne ihren Mann feiern muss? Was ist mit dem Vater, der kein Geld für einen Weihnachtsbaum hat oder für Geschenke? Was ist mit der schwangeren Frau, dessen Freund jetzt eine andere liebt? Was ist mit dem Mädchen, das auf eine Blutspende wartet? Was ist mit dem Jungen, der nie wieder Fußballspielen kann? Was ist mit dem Obdachlosen, der jeden Tag im Rolli vor dem Supermarkt sitzt? Was ist mit denen, die heute wie an jedem normalen Tag arbeiten? … wie gibt es für all diese Menschen ein Weihnachten?«

Anton zuckt die Schultern. »Da komme wohl ich ins Spiel.«
»Richtig, richtig …«, erwidert Cäcilia und zieht die Nase schniefend hoch, »das musst du ganz unbedingt, lieber Anton. Ganz unbedingt …« Sie überlegt und fragt, »Wer willst du sein, wenn du auf der Erde unterwegs bist? Wie viele kannst du sein?«
»Drei. Ich kann in drei Figuren schlüpfen.«
»Wow! Das ist großartig. Wirklich exzellent! Das dürfte genügen, und … du wirst fantastisch aussehen.«
»Ich gebe mein Bestes.«

»Könnte ich das eigentlich auch?«
»Was meinst du?«
»Auf die Erde fliegen und für einen Tag wieder eine normale Figur haben?«
»Ich finde dich entzückend, Cässi, genauso wie du bist. Mit dem verführerischen Blattgrün auf deiner Schulter, dem leicht überheblichen Blick und deiner klaren Sicht auf die Dinge.
Das bisschen Polster hindert uns einfach daran, dass wir wie willenlose Federn von Wolke zu Wolke schwirren. Also spiele dein Lied und finde dich damit ab, dass es deine Aufgabe ist, die du hier oben einmal im Jahr hast. Bringe denen Rührung auf der Erde, die ihre Gefühle verleugnen und ich beschere die, deren Herzen gebrochen sind! Und wenn ich zurück bin … erzähle ich dir, was es mit dem Feigenblatt auf sich hat.«

Anton zwinkert ihr zu, richtet seine Flügel auf und mit einem lautstarken, »Ja-ja-ja-ja-jaaaaa …«, verschwindet er unter ihr und unter den Wolken, die sich Schnee sammelnd grau und schwer über der Erde zusammenbrauen. Noch während er fliegt, entscheidet er sich für seinen ersten Besuch am heutigen Abend und nimmt Kurs auf die Lichter der Stadt. Das Feigenblatt vibriert, als er der Erde entgegen saust und die Klänge von Cäcilias Harfe ihn begleiten. Den Geist der Weihnacht trägt er gut verschnürt in seinem Herzen und Pfeil und Bogen in der Hand.

2 – Komm‘, Miez, Miez, Miez!

Anton schätzt die Entfernung ab. Er nimmt Anlauf und mit einem einzigen Satz landet er oben auf der Mauer. Vorsichtig tritt er zwischen die einzelnen Scherben aus Buntglas. Sie ragen gefährlich empor und erinnern an Zacken auf dem Rücken eines Stegosaurus.
Mit Bedacht setzt er einen Fuß vor den nächsten, bis er die Mitte der Mauer erreicht hat, dann springt er lautlos auf der anderen Seite hinunter. Geschafft. Unten angekommen strebt er der einzigen Tür und dem daneben liegenden angekippten Fenster entgegen. Nach ein paar Schritten bleibt er stehen und beäugt die hohen Hauswände. Die Fenster scheinen wie dunkle Augen auf ihn herab zu blicken. Alle, bis auf das eine genau vor ihm, welches mit verführerischem Duft und Bratgeräuschen zum Räucherspeck lockt und dessen Sprossen mit winzigen Lichtern geschmückt sind.

Anton findet sich inmitten von drei Altbaublöcken wieder, deren Hinterhöfe durch mannshohe Mauern und Maschendraht von einander getrennt sind. Er dreht sich um und blickt durch die verrosteten Speichen von zwei Fahrrädern hindurch, die sich scheinbar vergessen vor dem drohenden Zerfall gegenseitig stützen.
Vor dem rissigen Putz der Mauer sieht er eine Kuh. Sie lehnt wie betrunken neben einer weißen Kunststoffblumenschale, in der eine einzelne Rose blüht. Eine Rose an Weihnachten. Anton leckt sich verwundert das schwarze Fell.

»Ja, wer bist DU denn?«, ruft plötzlich der Räucherspeckduft und Anton spitzt die Ohren.
Vor Schreck lässt er seine Pfote, die er eben noch putzte, in der Luft hängen, so als wolle er auf ihr einen Handkuss empfangen.
»Na komm! Komm doch her zu mir!«, redet der Speck unbeirrt weiter und Anton sieht und hört, wie das gekippte Fenster mit einem Ruck geschlossen wird, um sich anschließend mit einem leichten Knarren weit nach innen zu öffnen. Begleitet wird das Öffnen von einem klirrenden Geräusch.
»Oh, meine Vase! Was bin ich heute ungeschickt. So ein Jammer um die schöne Vase!«
Mit dem zweiten Schreck, den das Zubruchgehen des Porzellans hinterlassen hat, stellt Anton die Pfote zurück auf die Erde. Er legt den Kopf schief und sein Schwanz schlägt die weiße Spitze aufgeregt und in Schlangenlinien hin und her.
»Ach herrje, hast du dich auch so erschrocken wie ich? Das macht nichts … also ich meine, das macht nichts mit dir … also ich meine, das tut dir nichts. Das kommt in den Müll.«
Anton neigt den Kopf zur anderen Seite. Das Schwanzschlagen wird etwas ruhiger.
»Sieh mal, was ich hier für dich habe! Das wirst du mögen. Komm nur her … spring einfach hier herauf. Komm‘, Miez, Miez, Miez!«

Die alte Frau hält den Zipfel einer Wurst in der Hand. Lehnt sich aus dem Fenster und schaukelt ihn an einer Strippe hin und her. Anton verfolgt das Geschehen mit seinen Augen. Hin – Her – Hin – Her. So lange, bis ihm schwindlig wird und er sich auf seinen Hintern plumpsen lässt.
»Na, so wird das aber nichts, Katerchen. Hoch mit dem Po und Allez Hopp! Ja … genau … so ist es gut. Und jetzt … ja … spring … siehst du, geschafft. Feines Katerchen. Und jetzt gehört das Leckerchen dir. Siehst du?!«

Etwas zögerlich noch sitzt Anton auf dem Fenstersims. Er stupst die faltige Hand an und reibt seinen Kopf gegen den Wurstzipfel. Sein Motor ist auf Wohlfühlmodus geschaltet.
»Wie laut du schnurrst. Das konnte meine Cleo damals auch. Kein Auge haben wir zugetan, wenn sie sich nachts in unser Bett geschlichen hatte. Sie war so schwarz wie du, kleiner Mann. Du bist doch ein Mann, oder? Aber es ist ja auch egal, was du bist. Jetzt komm‘ schnell rein zu mir, damit ich das Fenster wieder schließen kann. Die Luft riecht nach Schnee heute … und ich will mir keinen Schnupfen holen … so, ja. So ist fein … jetzt noch das Fenster … Vorsicht … Jawohl! Das ist aber schön, dass du mich besuchst.«

***

Die Hand der alten Frau streichelt über Antons Rücken. Er drückt sein Hinterteil nach oben, wenn sie sich dem nähert. Die Wurst war ein Leckerbissen und seine Zunge schmatzt noch etwas nach, so dass kleine Speicheltropfen an seinen Barthaaren hängen. Dann setzt er sich auf das gestreifte Kissen, welches auf dem breiten Fensterbrett liegt, und beginnt sich ausgiebig zu putzen. Der Heizkörper darunter strahlt angenehme Wärme ab. Ein perfekter Katzenplatz, von dem aus Anton auch während des Putzens den Innenhof genauso gut im Blick hat wie die gesamte Küche.

Neugierig sieht er sich um. An den Wänden klebt Fliesentapete. Vergilbte Quadrate mit Bildern von Windmühlen, Apfelbäumen und Blumenkränzen. Das geschwungene Küchenbüffet an der Längsseite ist hellgrau, die Glasscheiben des Aufsatzschranks aus gelbem Riffelglas. An den oberen Türen fehlen die Griffe. Die an den Schubfächern und den Türen darunter sind weiß und kugelrund.
Daneben steht ein Spültisch. So einer, der zwei Emailleschüsseln in sich verbirgt. Die Arbeitsplatte darüber ist längsgeteilt und mit zwei Scharnieren verbunden, so dass sie zum Benutzen wie ein Spitzdach aufgestellt werden kann. Darunter hängen die beiden Schüsseln.
Braunes Linoleum liegt auf dem Fußboden. Mit verwischten schwarzen Streifen, die aussehen, als hätte sie jemand mit der breiten Seite einer Feder aufgetragen. Hier und da wirft der Belag Blasen auf. Der Tisch in der Mitte der Küche ist liebevoll mit gestickten Weihnachtsdeckchen und einem Adventsgesteckt geschmückt. Eine Handvoll Walnüsse liegt auf einem bunten Pappteller, zusammen mit zwei Apfelsinen. Es ist für zwei gedeckt. Jeweils mit einem flachen und einem tiefer Teller, drei Sorten an Gläsern, Besteck. Schälchen für das Dessert.
Zwei Stühle sieht Anton. Auffällig sind die hohen Rückenlehnen und das geschnitzte Geschnörkel darin. Auf den grünen Samtpolstern liegen weiße Häkeldeckchen.

Die alte Frau gießt heißes Wasser aus dem Kessel. Dampf steigt auf und beschlägt das Glas der Küchenuhr, die über der aufgestellten Arbeitsplatte an der Wand hängt und gleichmäßig tickt. Mehr ist nicht zu hören, wenn die alte Frau still ist. Nur das Ticken der Uhr, die ungefähr eine halbe Stunde nachgeht und das sanfte Zerplatzen des Schaums im Abwaschwasser.
»Das muss noch ein bisschen warten«, sagt sie schließlich und sieht Anton an, »es ist mir noch zu heiß. Wobei ich es ja sehr heiß benötige, sonst geht mir das Fett von der Pfanne nachher nicht ab …«, sie seufzt, »irgendwas ist ja immer.«
Dann wischt sie sich die Hände an der Kittelschürze ab, die von Lavendelzweigen übersät ist. Lila Zweige und kleine grüne Blätter auf rosafarbenem Untergrund.

»Wir haben uns ja noch gar nicht richtig bekannt gemacht«, sagt sie unvermittelt und tut erstaunt, »also ich bin die Helene. Helene Seib. Und Mein Mann, also der auf dem Bild, das ich auf dem Nachttischchen zu stehen habe, das ist der Horst. Horst Seib. Ich zeige ihn dir gleich. Damit du ihn auch kennst und dich ganz wie zu Hause fühlst bei uns.

Dann bekommt sie einen glasigen Blick. »Wir hätten goldene Hochzeit gehabt dies Jahr, der Horst und ich. Seine Freunde nannten ihn ja immer Hotte. Aber das mochte ich nie«, sie lässt sich auf den Stuhl fallen und schiebt das Besteck an die Tischkante. Sortiert es bald nach links, bald nach rechts. Einen Fingerbreit von der Tischkante entfernt, dann wieder ganz bis ran. »Heute sind seine Freunde schon alle tot. Dabei wäre es mir jetzt auch recht, wenn sie ihn Hotte nennen würden. Also weil das bedeuten würde, dass er noch da wäre. Mein Horst. Ja … so ist das. Aber selbst wenn er noch leben würde, könnten sie ihn ja trotzdem nicht so nennen, weil sie ja selbst alle … also nein so was! So habe ich das noch gar nicht gesehen. Was für ein Fingerzeig des Schicksals das doch wieder ist«, als sie das sagt, kehrt ihr Lächeln zurück. Sie beobachtet, wie der Kater in seine Krallen beißt. In jede einzeln. Dann fährt sie fort, »ich glaube ja nicht an Zufälle. Wie ist das mit dir? Äh … wie nenne ich dich denn eigentlich? Mal überlegen … ja, ich hab’s … Oskar! Du bist ab jetzt Oskar. Ein schöner Name für einen schönen jungen Herrn, nicht wahr? Gefällt er dir?«

***

Helene stellt die letzte Tasse in den Schrank. Der Abwasch ist fertig. Sie holt die Schüssel mit dem Wasser aus der Versenkung. Der Schaum ist verpufft. Ein paar Krümel schwimmen auf dem bräunlichen Wasser. »So, das wäre getan«, sagt sie zufrieden und kippt es mit einem Schwung in das moderne Spülbecken, das neben ihrem alten Abwaschtisch steht.
»Da staunst du, Oskar, was?! Dass ich ich das so umständlich mache … hm. Aber das ist eben die Gewohnheit, und … mein Mann hat mir den Tisch damals geschenkt. In den Sechzigern war das. Jawohl.«

Die Eieruhr klingelt und lässt Anton zusammenzucken. »Ach, mein falscher Hase, den hätte ich ja fast vergessen. So was aber auch. Kaum habe ich Besuch, gerät mir alles durcheinander«, kichert sie und wirkt dadurch fast wie ein Mädchen, »ich habe extra viel Speck in den Bräter getan, so wie mein Horst das liebt. Hm … riechst du, wie das duftet?«
Vor Antons Mäulchen sammelt sich eine Speichelblase. Sein Schwanz schlägt aufgeregt. Er streckt sich, springt von seinem Platz und schlängelt sich um Helenes Beine. Fordernd drückt er den Kopf dagegen.
»Vorsichtig, du Rabauke, meine Strümpfe! Nicht das du mir eine Laufmasche … ja doch … ja … du bekommst doch auch etwas ab. Das gefällt dir, dass ich so fein koche, was? Schließlich ist Weihnachten heute. Ja. Was wollte ich denn jetzt?«
Helene stemmt die Arme in die Seite. Sie ist kaum größer als ihr Kühlschrank. »Ach ja, richtig! Der Braten«, sagt sie und bückt sich zum Herd herunter, »das würde mir noch fehlen, dass ich den vergesse. Wo ich mir das Geld für’s Gehackte fast vom Mund abgespart habe.«

***

Helene hat sich auf ihr Bett gesetzt. Sie hält den Fotorahmen vom Nachttisch in der Hand. Zärtlich streicht sie über das Gesicht von Horst. »Er wollte mit mir auf Hochzeitsreise gehen in diesem Jahr, Oskar. Er hat das immer gesagt. Von einer Weltreise hat er gesprochen. Und das auf unsere alten Tage. Er war eben ein Träumer mein Horst. Wir und eine Weltreise. Wie hätte das denn gehen sollen von unserer kleinen Rente?«
Sie stellt das Bild zurück und tritt an die kirschfarbene Kommode, »soll ich uns Musik auflegen?«, fragt sie Anton unvermittelt und öffnet die beiden unteren Türen, »Hier, das ist unser Plattenspieler. Den hat Horst dort eingebaut. Sieh mal, ich kann ihn wie auf einem Tablett herausziehen. Ist das nicht ungemein praktisch? Ja, praktisch war er auch, mein Horst.«

Während Helene nach einer passenden Schallplatte sucht, springt Anton vom Bett und landet lautlos auf dem Veloursteppich. Er drückt seinen Kopf wieder gegen Helenes Beine. Unaufhörlich rasselt sein Motor dabei. Dann gelangt er mit einem genauso leisen Satz auf die Marmorplatte der Kommode, wo noch mehr Bilderrahmen stehen und allerlei Nippes. Geschickt tänzelt er zwischen den Gegenständen umher, ohne etwas umzustoßen. Es ist kalt an den Pfoten.

Dicht an der Wand drängen sich Bücher. Eine Vielzahl von Grieben Reiseführern stehen vergilbt Rücken an Rücken. Ganz am Rand werden sie von einem klobigen Weltatlas gehalten. Auf der anderen Seite stützt sie die Wand. Anton reibt seinen Nasenrücken gegen Band 53 – ‚Die Nordsee-Bäder‘.

»So, hier habe ich sie«, ruft Helene freudig aus und holt die Platte von Peter Alexander wie einen Schatz aus der Hülle, »auch von meinem Horst«, sagt sie und legt die schwarze Scheibe auf den Plattenteller. Behutsam setzt sie Nadel auf einen der breiten Trennstriche. Es folgt ein leises Knacken aus den Lautsprechern, die Horst auf einem Regal über der Kommode angebracht hat. »Gleich, Oskar, geht es los. Ich fange mit Heidschi Bumbeidschi an, das ist mittendrin. Pass auf!«
Helene bleibt vor der Kommode stehen. Sie schließt die Augen, verschränkt ihre faltigen Hände vor der Kittelschürze und fängt an, sich zu der warmen Männerstimme zu wiegen. »Fast war mein Horst ein wenig eifersüchtig«, sagt sie leise und beginnt zu summen.
Anton steht gerade bei Band 35 – ‚Fichtelgebirge‘, als es an der Türe klingelt.
»Oh, das wird meine Zeitung sein, Oskar. Die alte Knüttel aus dem dritten Stock bringt sie mir manchmal. Und wo doch Weihnachten ist, hat die sowieso keine Zeit zum Lesen, nehme ich an. Bei den vielen Enkeln, die die hat. Dann können wir beide richtig schön schmökern und gucken, was heute los ist in der Stadt. Warte kurz. Ich bin gleich wieder bei dir. Und bis dahin hörst du dir den Peter weiter an. Da kann auch ein Kater nicht genug von haben, nicht wahr?«
Anton mauzt zustimmend und Helene lächelt zufrieden.

***

Die alte Knüttel aus dem dritten wünscht Helene frohe Weihnachten. »Wenn du dich einsam fühlst heute Abend … wo es doch das erste Jahr ohne deinen Horst … also du kannst gerne zu uns hochkommen. Du weißt ja, ich halte immer einen Stuhl für dich frei.«
»Ja, ja. Schon gut. Ich habe Besuch. Du würdest staunen. Ein junger Mann sitzt auf meiner Kommode«, antwortet Helene und hat wieder dieses mädchenhafte Grinsen in ihren Augen.
»Auf deiner Kommode? Ach, etwa dieser fette Kater, der heute morgen auf dem Hof herumgeschlichen ist? Ich habe den gesehen …«
»Fetter Kater?«, wiederholt Helene entrüstet und im selben Moment rettet sie ein lautes Krachen aus Richtung ihres Schlafzimmers von einer weiteren Vertiefung dieser Behauptung.
»Ich … oh, ich muss dann rasch. Bestimmt hat er das gehört und ist … also frohe Weihnachten euch und danke für die Zeitung!«, ruft Helene, während sie die Tür langsam schließt und mit aufgerissenen Augen murmelt sie anschließend, »der ist nicht fett!« Dann treibt sie die Sorge zu Oskar.

»Ach du meine Nase! Was ist denn da passiert? Oskar!!!«
Sofort schnellt Anton zu Helene und läuft ihr aufgeregt im Slalom zwischen den Beinen umher. Er dreht Kurve um Kurve, bis es selbst der bedürftigen Helene zuviel wird.
»Nun lass man, lass man! Ich schimpfe ja gar nicht. Es ist ja nur der Weltatlas von meinem Horst. Den brauchen wir ja nicht mehr. Den heben wir einfach wieder auf und … ja, was ist DAS denn?«
Während Peter Alexander jetzt ‚Leise rieselt der Schnee‘ singt, lässt sich Helene mit offenem Mund vor dem heruntergefallenen Buch nieder. Die Wucht des Aufpralls hat Seiten verschoben. Sie lässt die Zeitung aus der Hand fallen und Anton lässt sich darauf nieder.
FRÖHLICHE WEIHNACHTEN ALLEN, DIE HEUTE FÜR UNS ARBEITEN, steht als großer Aufmacher auf der ersten Seite. Darunter Fotos von Krankenschwestern, Zugführern, Mitarbeitern der Stromversorgung, Tierpflegern … doch das ist es nicht, was Helene so erschrocken auf den Boden schauen lässt. Ihr Augenmerk gilt den Geldscheinen, die zwischen den vergilbten Buchseiten hervorragen.
»Oskar«, schnappt sie nach Luft, »Oskar, siehst du was ich sehe?« Gedankenverloren schlägt sie ein Kreuz vor ihrer Brust. »Heiliger Herr Gesangsverein, Oskar … Horst hat … unsere Weltreise … das sind ja lauter Hunderter!«

***

Für Helene gab es Pfefferminzlikör auf den Schreck, »Mein Geist der Weihnacht«, hatte sie die Flasche genannt. Für Anton ein Stück vom falschen Hasen. Am Tisch. Auf Horsts Platz.

»Prost«, sagt sie zum zweiten Mal und schlürft nachdenklich den grünen Beruhigungstrunk aus dem Likörglas, »das ist jetzt aber der Letzte … für jetzt. Wir müssen schließlich überlegen … das kann doch kein Zufall sein. Genau an Weihnachten. So eine schöne Bescherung, Oskar. Nein, so was aber auch. Hm?«, sagt sie zu Anton gewandt und stützt den Kopf auf ihre Hände.
Der Kater sitzt ihr immer noch gegenüber am Tisch und gähnt. Den Teller hat er sauber abgeleckt.
»Du bist müde, kleiner Mann, was?«
Wie zur Bestätigung kauert sich Anton in Ruheposition. Seinen Schwanz kringelt er um sich, fast wie einen Schal.

»Also ich mache jetzt Folgendes«, beschließt Helene und stellt das Glas ab, »Ich hole meine beige Handtasche und dahinein stecke ich die Geldscheine. Ich bin schon gespannt, wie viele … Du bleibst da liegen und ruhst dich aus … und Oskar … das mit dem ‚fetten Kater‘ hat die alte Knüttel nicht so gemeint. Das musst du ihr nachsehen. Die hat es auch nicht leicht. Sieben Enkelkinder hat die. Davon eines ganz klein. Und eines schwer krank. Das arme Mädchen muss auch Weihnachten im Krankenhaus verbringen. Wartet auf einen Spender, weißt du? Nein. Woher sollte das ein glücklicher Kater mit sattem Bauch schon wissen, nicht wahr? Aber das macht auch nichts. Ohne dich hätte ich dieses Weihnachtsgeschenk nie erhalten und jetzt wollen wir doch mal sehen, was ich Kluges damit anfange.«

»Weißt du, was ich gerade überlege, Oskar?«, ruft Helene aus dem Schlafzimmer, »was mache ich bloß mit dem vielen Geld? Mein Horst würde wollen, dass ich die Weltreise ohne ihn antrete, aber ehrlich gesagt, bin ich ganz froh, dass es nie dazu kam. Ich hätte doch ganz furchtbare Angst davor gehabt, auf eines dieser großen Schiffe zu steigen, wenn ich da an die Titanic denke … das habe ich ihm nur nie gesagt, weil wir ja das Geld ohnehin nicht …«, ihre Stimme wird leiser, »obwohl das ja nun gar nicht stimmt, wie man sieht. Hm.«

‚Weihnacht für die ganze Welt‘ singt Peter und Helenes Blick fällt auf die Tageszeitung, die immer noch am Boden liegt. Sie sieht die Überschrift und die Bilder der Krankenschwestern.
»Oskar!«, ruft sie plötzlich überschwenglich aus, »Ich habe eine Idee! Jetzt weiß ich, was ich mache …«, dann sieht sie zu dem Bild auf ihrem Nachttisch, »wirst du mir das verzeihen, mein lieber Horst? Das wirst du doch, oder? Stell dir nur mal vor, wie viele Menschen du heute Abend glücklich machen kannst, obwohl du gar nicht mehr auf der Erde bist … stell dir doch das mal vor!«
Bei den letzten Worten füllen sich Helenes Augen mit Tränen, »Ich habe dir nie gesagt, wie sehr du mir fehlst«, spricht sie leise weiter, »weil ich immer dein tapferes Mädchen sein wollte. Aber heute … heute sage ich dir das. Weil Weihnachten ist, mein Lieber. Mein erstes Weihnachten ohne dich. Und doch nicht ohne dich …«, sie blickt auf das Geld in ihrer Hand, »Danke mein Lieber, für dieses schöne Geschenk, das du mir damit machst. Ich werde davon abgeben, genau das werde ich tun … weil Geben seliger denn Nehmen ist. Genau!«

***

Helene knöpft den Mantel zu. Sie setzt den Hut auf ihre silberweißen Haare und greift nach ihrem Gehstock. Die Tasche mit den Geldscheinen hält sie fest umklammert vor ihrer Brust.
»Ich habe dir das kleine Fenster in der Kammer aufgemacht, Oskar. Falls du mal für Königstiger musst … bis heute Abend dann. Und wenn ich zurück bin, planen wir beide eine Deutschlandreise mit dem Seniorentreff!«
Bevor sie sich auf den Weg macht, wirft sie einen letzten Blick in die Küche. Doch wo eben noch der schwarze Kater sein Schläfchen hielt, tanzt nichts als farbige Luft im Raum.

3 – Ist was, Schwester?

Anton zieht sich den Schlüpfer aus der Poritze und murmelt vor sich hin. »Wie kann Frau nur so unbequeme Sachen tragen. Dieses Stück Schnur von einer Unterhose ist doch die reinste Qual. Ständig rutscht mir das in meine …«
»Ist was, Schwester?«
»Oh, Frau …«, Anton bückt sich und wirft einen Blick auf das Namensschild am Fußende des Bettes, »… ähm, Frau Rosenblatt, das ist sehr nett, dass Sie mich das fragen. Es ist nur … noch etwas ungewohnt. Mein erster Tag, verstehen Sie? Und … eigentlich sollte ich Sie etwas fragen. Wie geht es Ihnen? Heiligabend im Krankenhaus zu verbringen ist nicht gerade schön …«

Die Patientin dreht wortlos das Gesicht zur Seite. Ihre schwarzen Haare fallen weich über das Kopfkissen. Sie sehen frisch gewaschen aus. Vanilleduft steigt Anton in die Nase und versüßt die Penetranz des Raumaromas aus Desinfektionsmitteln. Auf dem Nachttisch daneben leuchtet ein Tannenstrauß mit winzigen roten Kugeln und einer kitschigen Lichterkette. Dem Schokoladenweihnachtsmann, der davor steht, fehlt der Kopf. Julia Rosenblatt schaukelt das aufgestellte rechte Bein, das in einer hellblauen Jogginghose und einem lila Wollsocken steckt, hin und her. Der linke Fuß hängt in einer Schlaufe und sieht aus, wie ein in Gips gegossener Moon Boot. Ihre Hände liegen auf der gewölbten Zudecke und streichen sanft darüber.

»Es gibt Schlimmeres«, erwidert sie kurz angebunden und wendet sich der Schwester zu, »wären wir nicht allein, wäre es nur halb so schlimm. Säße ER dabei und würde meine Hand halten … aber so …«, sie blickt Anton mit traurigen Augen an und streicht wieder über ihren Bauch, »er hält die Hand einer anderen heute Abend. DAS – ist schlimm!«
»Verstehe … Frau Rosenblatt. Das muss hart für sie sein. Ganz klar.«

Anton lächelt sie an und streicht die blonde Locke hinter das Ohr zurück, die sich eben aus seinem Zopf gelöst hat. Er zeigt fragend zum Nachttisch. Dabei fährt er sich über seinen nicht vorhandenen Kinnbart.
»Von wem ist der Strauß?«
»Von meinen Kollegen«, antwortet Julia und lächelt kurz, »und von den Kindern. Ein paar haben mich heute Morgen besucht.«
»Sie haben schon Kinder?«
»Nein, ach Quatsch! Ich bin Erzieherin. Das hier …«, sagt sie und blickt liebevoll auf ihren Bauch, »das hier wird mein erstes sein.«

»Hm, eigentlich«, erwidert Anton und fühlt Julias Puls, »eigentlich sind Sie ja dann gar nicht allein an Heiligabend. Also jedenfalls nicht so richtig allein.«
»Stimmt, ich habe ja noch den Adoniskörper dieses Weihnachtsmannes hier neben mir stehen. Da wird mir das Herz schon aufgehen, wenn es soweit ist. Und da ihm der Kopf bereits fehlt, kann er mich auch nicht mehr belügen. Was will ich mehr?«
»Das war jetzt aber ironisch, nicht wahr?«
»Oh!«, antwortet Julia leicht schnippisch, »Sie sind wohl schon lange auf der Erde, dass Sie das so schnell bemerken!?«
Anton schluckt und merkt, wie seine Ohren plötzlich heiß werden. »Woher wissen Sie? Ich meine … wie meinen Sie das?«
»Schon gut. Nehmen Sie es nicht persönlich, bitte! Müssen Sie nicht eigentlich noch zu anderen Patienten? Oder gibt es an Heiligabend Einzelbetreuung?«
»Gewissermaßen … schon«, entgegnet Anton und klimpert versöhnlich mit seinen vollen geschwungenen Wimpern, »Im Grunde bin ich hier, weil ich Sie fragen wollte, ob Sie mir helfen können.«
»Ich soll IHNEN helfen? Was wollen Sie? Machen wir eine lustige Polonaise durchs Krankenhaus und ich gebe die Schneebergatrappe mit meiner riesigen Murmel und dem Klumpfuß?«
Anton lacht laut auf. »Ich mag Ihren Humor, Frau Rosenblatt. Ja, wirklich. Ich mag ihn sehr. Sehr erfrischend, Ihre Ideen! Nein, wirklich.«
Julia Rosenblatt sieht ihn erstaunt an. »Ihr Naturell möchte ich haben, Schwester … nein, wirklich.« Dabei lacht auch sie.

»Es ist nämlich so. Wir sind heute Abend nur schwach besetzt und viele Patienten sind auf Weihnachtsurlaub in ihren Familien. Und ich habe nebenan auf der Kinderstation zwei kleine Problemfälle, die nicht gut alleine sein können. Und jetzt, wo ich weiß, dass sie Kinder mögen … Sie mögen doch Kinder? Also als gute Erzieherin sollten Sie das ja ganz unbedingt!?«
»Natürlich mag ich Kinder«, Julia dreht ihr Gesicht wieder dem Weihnachtsstrauß zu. Dann spricht sie leise weiter, »ich mag am meisten die Ehrlichkeit an ihnen und dass sie nicht berechnend sind. Und dass … ihre Gefühle aufrichtig sind. Sie heucheln dir nicht nur vor dich zu mögen …«, plötzlich richtet sie sich auf und stützt sich auf den Ellenbogen ab, »Sie sehen noch so jung aus, Schwester, sehen Sie sich vor mit den Männern. Überlegen Sie gut, an wen Sie ihr Herz verschenken.«
»Nur keine Sorge, mit Männern habe ich es eh nicht so …«
»Wie bitte?«
»Äh, ich meine damit, dass ich in meinem Beruf voll aufgehe. Da habe ich für Herzschmerzgeschichten überhaupt keine Zeit.«

***

»So, da wären wir. Darf ich vorstellen? Der kleine junge Mann dort mit dem Kopfverband ist Suleyman«, Anton schiebt Julia Rosenblatts Bett an den freien Platz in der Mitte, »und diese junge Frau hier heißt Emma. Darf ich Sie dann kurz alleine lassen, mit den beiden entzückenden Geschöpfen? Ich hätte noch ein paar Dinge zu erledigen. Sie wissen schon, die Sache mit der Heimlichkeit …«, Anton streicht die widerspenstige Locke erneut zurück hinters Ohr und lächelt die drei Patienten an, »Ihr helft mir ganz wunderbar damit. Nein, wirklich. Ganz wunderbar.« Dann verlässt er Hüften schwingend das Zimmer und zieht sich zum wiederholten Male das kneifende Ungetüm zwischen seinen Pobacken hervor.

***

»Hallo Suleyman! Ich heiße Julia. Aber wenn du willst, kannst du mich auch Jule nennen.«
»Ich bin Süly.«
»Süly? Auch schön. Was machst du da am Fenster? Wartest du auf den Rentierschlitten?«
»Nein. Auf Mama und Papa.«
»Besuchen Sie dich heute noch mal? Das ist aber schön.«
»Die können ihn nicht mehr besuchen«, schaltet sich Emma mit gedämpfter Stimme ein. Hinter dem Mundschutz verbirgt sich blass ihr eingefallenes Gesicht. Ein Infusionsschlauch steckt in ihrem rechten Arm, und auf dem Kopf trägt sie einen roten Schlapphut. »Seine Eltern sind tot.«
»Gar nicht!«, antwortet Suleyman leise, »sie sind nur gerade im Himmel. Das hat mir der Onkel Doktor gesagt.«

Julia holt tief Luft und merkt, wie sich ihre Augen mit Tränen füllen wollen. Sie räuspert sich und sagt zu ihm: »Und der muss es schließlich wissen, stimmt’s Süly?« Zu Emma gewandt schüttelt sie den Kopf und legt mit einem bittenden Blick den Zeigefinger auf den Mund.
»Das ist doch das Selbe«, nuschelt Emma und beobachtet die gelbe Flüssigkeit, die sich nur widerwillig einen Weg durch den dünnen Schlauch in ihren Arm sucht.
»Das habe ich gehört«, flüstert Julia und sieht das Mädchen mitleidig an, »was bekommst du da?«
»Ich weiß nicht. Irgendwas für mein Blut. Mein Blut frisst sich selbst kaputt. Alles durcheinander, verstehst du?«
»Du hast Leukämie?«
»Jap.«
»Und dann liegst du hier auf der normalen Kinderstation?«
»Weil Weihnachten ist.«
»Aha.«
»Aha? Da sagste nix mehr, was?!«
»Emma! Also … du bist ganz schön vorlaut, weißt du das?«
»Na und? Besser vorlaut, als gar nicht mehr reden können.«
»Da hast du auch wieder recht …«, Julia schaut leicht überfordert auf die Wölbung vor sich. Streichelt nachdenklich darüber, »und deine Eltern? Kommen die dich besuchen?«
»Ich habe sechs Geschwister. Davon ist eins so klein, wie das Baby in deinem Bauch bald sein wird. Das schafft Mama heute nicht.«

Julia wechselt mit ihren Blicken zwischen Suleyman und Emma hin und her und seufzt.
Der Junge steht noch immer am Fenster, den Kopf auf die Hände gestützt. Er trägt eine rote Jeanslatzhose und ein blau-gelb kariertes Hemd mit einer Kapuze. Oberhalb des Verbandes stehen schwarze, kurze Haare in alle Himmelsrichtungen ab. Eine Schürfwunde sitzt wie eine fette Raupe auf seinem Nasenrücken.
»Ich zähle jetzt«, sagt er unvermittelt, »die Zeit vergeht schneller, wenn man zählt, sagt Mama.«
»Du kannst doch noch gar nicht zählen, du kleiner Hosenscheißer«, nuschelt Emma und fängt sich einen energischen Blick von Julia ein.
»Eins – zwei – drei – vier – fümpf …«, zählt er langsam und richtet dabei mit der rechten Hand die Finger der linken auf. Dann wechselt er die Seiten und zählt weiter, »sechs, siebm, acht …«
»Wow!«, sagt Emma und gibt sich beeindruckt.
»Jetzt lass ihn doch mal in Ruhe«, zischt Julia leise, und etwas sanfter fügt sie hinzu, »das muss schlimm für dich sein, Emma, dass du hier sein musst ohne deine Familie und …«, sie zeigt auf den Tropf, »auch noch so und … auch noch an Weihnachten.«
»Es geht«, antwortet Emma und dreht den Kopf in Julias Richtung. Sie sieht auf ihren Bauch, dann auf den Gipsfuß, »Und was ist mit dir? Wo ist deine Familie und was ist mit deinem Fuß?«
»Ich habe mir das Sprunggelenk gebrochen …«
»Na, immerhin kein Beinbruch!«, platzt Emma heraus, »Oh, entschuldige. Das war doof.«
»Nein. Schon gut. Es ist lustig. Es ist auch kein Beinbruch, du hast ja recht. Irgendwann kann ich wieder laufen und dem Baby geht es zum Glück gut. Ich bin beim Staubsaugen blöd gestolpert …«
»Blöd ist wohl der richtige Ausdruck dafür«, fällt Emma ihr erneut lachend ins Wort.

»Du bist hübsch, wenn du lachst, Emma. Auch wenn ich deinen Mund nicht sehen kann. Aber deine Augen lachen mit.«
»Kann ich mir auch nichts von kaufen«, nuschelt das Mädchen plötzlich etwas kleinlaut.
»Kaufen? Hey! Das ist ein super Stichwort, Emma, und bringt mich auf eine Idee. Süly, kommst du mal?«
Der Junge nickt, klettert von dem Hocker, auf dem er stand und geht ein paar Schritte auf Julia Rosenblatts Bett zu.
»Hier. Komm hier her!«, sagt sie und zeigt auf die Seite zwischen ihrem und Emmas Bett. Höchste Zeit, dass wir uns etwas wünschen. Und zwar etwas, das man sich nicht kaufen kann. Was haltet ihr davon?«
Sie sieht die beiden Kinder gespannt an. »Habt ihr denn schon einen Wunschzettel abgegeben?«

»Wunschzettel? Was ist das?«, fragt Suleyman und reißt die großen braunen Augen auf, die unter dem weißen Verband wie zwei Kohlenstücke hervorstechen.
»Ach ja richtig, das kennst du vielleicht gar nicht«, sagt Julia leise, »passt auf, wir nehmen jeder ein Blatt Papier. Das soll uns die Schwester besorgen, dann schreiben oder malen wir jeder unseren Herzenswunsch darauf und anschließend hängen wir die Zettel an das Fenster. Was haltet ihr davon?«
»Kommen Mama und Papa dann schneller her?«, fragt Suleyman.
»So ein Quatsch!«, posaunt Emma, »Glaubst du wirklich, dass mir der liebe gute Weihnachtsmann auf seinem Schlitten dann einen Blutspender bringt, oder was?«

»Blutspender? Was ist das?«, fragt Suleyman und klettert zu Julia aufs Bett. Als er neben ihr sitzt, greift er nach ihren Haaren und lässt sie durch seine Finger gleiten. »Meine Mama hat die gleichen«, sagt er leise und sieht Julia mit großen Augen an. »Was ist ein Blutspender?«, fragt er erneut.

»Eigentlich brauche ich ja einen Knochenmarkspender. Aber das Wort klingt noch abartiger als das andere«, mischt Emma sich ein, »und das verstehst du sowieso nicht, kleiner Hosenscheißer!«
»Ich gehe schon auf Toilette«, antwortet Suleyman und strahlt, »ich bin schon sauber«, fügt er hinzu und sieht Julia freudig an, »überhaupt kein Hosenscheißer bin ich!«

Es ist dunkel geworden vor den Fenstern. Im Licht der Straßenlaternen tanzen ein paar Schneeflocken und aus dem Lautsprecher in der oberen Ecke am Fenster erklingt plötzlich eine leise Weihnachtsmelodie. ‚Chor der Engel erwacht‘, singt Julia leise mit und sieht Emma wieder mit diesem mitleidigen Blick an.
»Ist ja gut. Ist ja gut!«, mault das Mädchen genervt und zieht sich den Schlapphut über die Augen. Ihre Hände krallen sich zu Fäusten geballt an die Krempe und ihre Unterlippe schiebt sich nach vorn. Als sie zu Julia gerichtet fragt, »Und? Was machen wir jetzt also mit deinem tollen Plan? Hm?! Glaubst du, dass die Engel unsere Zettel heute noch sehen wollen?«, klingt ihre Stimme verschnupft.

***

Zwei Stunden später zieht Anton die Zudecke über den schlafenden Körper des Jungen. Er hat ihn vorsichtig in sein Bett gelegt. Die Gitter nach oben gezogen, damit er in der Nacht nicht heraus fällt. Julias Blick hängt liebevoll an Suleymans strubbligen Haaren.

»Schwester?«, flüstert sie leise zu Anton, »glauben Sie an Engel?«
»Oh, ja. Ganz unbedingt! Und ich kann sie auch sehen«, sagt Anton und lächelt Julia Rosenblatt zärtlich an, »Sie sind so ein Engel, Julia …«, fährt er fort und sieht dabei zu Emma, deren Brustkorb sich gleichmäßig und ruhig hebt und senkt. Der Schlapphut liegt auf dem Nachttisch. An seiner Stelle schützt ein weiches Tuch den Kopf des Mädchens davor, dass sie zuviel Körperwärme verliert. Auch sie ist eingeschlafen.

»Ich? Ich bin eine Kugel mit Gipsfuß, die sich selbst bemitleidet, während diese beiden Kinder hier wirkliche Probleme haben«, flüstert Julia und sieht die Krankenschwester mit dem kneifenden Schlüpfer fragend an.

»Vielleicht bleiben Sie einfach in Verbindung? Ihr Baby kommt bald und ich weiß, dass es gesund sein wird. Ich weiß es. Und wenn Emma bis dahin noch keinen Spender gefunden hat … nach Ihrer Stillzeit … Sie könnten sich typisieren lassen.«
»Sie meinen testen, ob ich als Spender für Emma in Frage käme?«
»Zum Beispiel.«
»Daran habe ich auch schon gedacht.«
»Sehen Sie .. Sie sind ein Engel«, Antons Blick geht zurück zu dem Jungen, »und Suleyman …«
»Was wird mit ihm?«, fällt Julia ihm ins Wort, »Wohin kommt er? Und was ist, wenn er begreift, dass seine Eltern nicht wieder kommen. Dass der laute Knall, von dem er immer spricht, der Unfall war … und kein Raketenstart für einen Ausflug in den Himmel?«

»Hier«, antwortet Anton und schiebt mit seinen schlanken manikürten Fingern einen Zettel auf Julias Nachttisch, »darauf steht der Name der Ansprechpartnerin beim Jugendamt. Tun Sie damit, was Ihnen ihr Herz diktiert.«
»Mein Herz?«

»Ich muss jetzt gehen, Julia. Danke, dass Sie das heute Abend für mich getan haben. Ich lasse Ihnen den kleinen Weihnachtsbaum stehen, wenn Sie möchten. Die Kollegen morgen werden das weniger schätzen, aber … es ist Heiligabend«, Anton zupft linkisch an seinem Hinterteil herum, »und ich finde, wir haben das zusammen gut hinbekommen mit dem Geist der Weihnacht«, er blickt zu den drei Zetteln, die am Fenster hängen. Mit den Bildern nach draußen.
Julia weiß, was auf ihnen zu sehen ist und folgt Antons Blick zur Fensterscheibe, hinter der noch immer ein paar Flocken tanzen.

Auf Suleymans Wunschzettel waren auf den ersten Blick nur lauter Striche und krumme Kreise zu erkennen. Das ist ja Krickelkrakel, hatte Emma gemotzt und erst auf Julias Bitten noch einmal genauer hingesehen. Dann hatte sie es auch erkannt. Ein Auto hatte der Junge gemalt. Ein Auto und drei verschieden große Ovale mit Strichen für Arme und Beine daran.
Auf dem zweiten Bild steht ein Mädchen unter einer lachenden Sonne. Es ist gut zu erkennen, dass unter dem roten Schlapphut zwei Zöpfe bis auf die Schultern fallen . Es hält einen kleinen schwarzen Hund an einer blauen Leine, und im Hintergrund hat Emma das Meer gemalt.
Der letzte Wunschzettel ist ein richtiges Kunstwerk geworden. So hatte Emma es erstaunt genannt. Mit sicheren Strichen war die Figur eines Engels entstanden. Eines Wonneproppens, der auf einer Wolke sitzt und die Harfe spielt. Unter ihm steht eine Frau mit einem Kinderwagen. Hand in Hand mit einem schwarzhaarigen kleinen Jungen. Neben den beiden lacht ein Mädchen mit rotem Schlapphut. Alle drei haben auf ihrer Brust ein rotes Herz. Die drei Herzen hat Julia mit Regenbögen verbunden.

»Ich mag es kitschig. Manchmal«, sagt sie entschuldigend und dreht sich zu Anton um. Doch wo eben noch die Schwester stand, tanzt nichts als farbige Luft im Raum.

4 – Vier Glas vom Fass

Antons Anzug ist etwas groß geraten. Und ein klein wenig altmodisch. Die Schlaghose und das Jackett mit breitem Revers nebst ausladendem Spitzenkragen wurden vor knapp vierzig Jahren aus einem Stoff mit weißen und braunen Karos liebevoll geschneidert. Die schulterlangen roten Haare und der bis auf die Brust ragende ebenfalls rote Kinnbart passen perfekt dazu. Die Spitzen von braunen Cowboystiefeln ragen unter dem Saum hervor.

»Aus welcher Diskokugel bist du denn gefallen?«, fragt der Mittdreißiger, der an der Theke neben Anton lehnt und sich sein erstes Gedeck bestellt, »und wie du riechst … puh! Aussehen tust du, als müsstest du nach ranziger Butter stinken. Du verstehst schon, vergessen auf der Müllhalde oder so. Stattdessen … was ist das? Hast du mit Desinfektionsmittel geduscht?«
»Freut mich auch, dich kennenzulernen«, antwortet Anton freundlich und reicht ihm die Hand, »ich bin übrigens Martin. Und du?«
»Martin? Wie passend an Weihnachten … dann gebe mal fein Acht, dass sie dich nicht schlachten!«
»Wie meinen? Schlachten?«
»Ach, vergiss es. Bei Martin muss ich immer an Gänsebraten denken.«
Der schmächtige Mann hebt das Bierglas zum Mund und lässt die goldene Flüssigkeit mit großen Schlucken in sich fließen.
»Für mich bitte eine Cola«, bestellt Anton bei dem Glatzkopf am Zapfhahn, »ich muss einen klaren Kopf behalten«, und den Schmächtigen neben sich fragt er, »und du? Willst du deinen Namen nicht verraten?«
»Was?«, platzt der heraus und wischt sich den Bierschaum vom Mund, »Ach so, ja. Ich bin der Thomas. Studierter Verlierer«, dann kippt er den Korn hinunter und schüttelt Antons Hand.

Thomas‘ Blick ist glasig. Blauäugig und glasig. Seine Haare sind zu einem Pferdeschwanz gebunden. Der Dreitagebart schimmert rötlich. Über seinem Schoß liegt eine khakifarbene Kutte mit braunem Fellrand an der Kapuze. Dem dunkelgrauen Kordhemd fehlt in der Mitte ein Knopf. Die Jeans ist abgetragen.
»Steckst aber auch nicht gerade in Festtagskleidung«, sagt Anton lächelnd, »von der Stimmung ganz zu schweigen, oder?«

Der Glatzkopf knallt die Cola auf den Tresen und stellt den Fernseher lauter, der über seinem Kopf in der Ecke hängt. E-Gitarren und Bässe füllen die kleine Kneipe. Anton und Thomas heben gleichzeitig die Köpfe und verfolgen das Treiben auf dem Bildschirm. Freizügig räkeln sich Blondinen auf der Motorhaube eines knallgelben Buick. Dazu spielt im Hintergrund eine Band. Der in schwarzem Leder gekleidete Sänger reibt die Dekolletees der Mädchen mit einem triefenden Schwamm ein. Verführerisch lächelnd und eingeschäumt waschen diese mit sich selbst anschließend das heiß geschwungene Stück metallenen Männertraums.

»Wow! Das ist hot!«, sagt Thomas, pfeift anerkennend und bestellt mit einem Handzeichen das nächste Gedeck. Dann guckt er Anton in die Augen.
»Was willst du von mir? Häh?! Bist du von der Wohlfahrt, du sauberer Herr Martin?«
»Nicht direkt«, antwortet Anton und nimmt einen Schluck von seiner Cola. Er hebt das Glas, lächelt Thomas an und stellt es leise zurück. »Ich bin zufällig draußen vorbei gelaufen und habe dich sitzen sehen. Und da ich nichts besseres vorhabe und an Weihnachten keiner alleine sitzen sollte … da dachte ich … nun ja. Jetzt sitze ich eben hier und würde gern wissen … also, wie es dir geht. Und wieso du so alleine hier und nicht woanders und überhaupt. Verstehst du?«
»So einen Stuss habe ich ja noch nie gehört«, antwortet Thomas schroff und setzt das zweite Glas Bier an seinen Lippen an. Doch anstatt einen großen Schluck zu nehmen, schlürft er nur am Schaum und lässt Anton nicht aus den Augen.
»Bedeutet dir Weihnachten nichts?«, fragt Anton unbeirrt weiter.
»Es ist ein verschissener Verlierertag, wie jeder andere in meinem Leben auch. Nur krasser.«
»Krasser?«
»Jap.«
»Wie genau krasser?«
»Ich kann mir nichts vormachen. Und schlimmer, ich kann meinen Kindern nichts vormachen.«
»Du hast Kinder?«
»Drei.«
»Und eine Frau?«
»Keine Frau!«
»Hm … aber ist es denn nicht das Schönste überhaupt, Weihnachten mit seinen Kindern zu erleben? Das Leuchten in ihren Augen zu sehen? Ihre Freude auf die Bescherung? Die bunte Aufregung vor dem verschlossenen Wohnzimmer, weil sie den Baum noch nicht sehen dürfen … Plätzchenduft? Würstchen und Kartoffelsalat?«
»Keinen Baum! Keine Bescherung! Studierter Verlierer, ich sagte es bereits … ich habe kein Geld für diesen Zinnober«, raunt Thomas und kippt den zweiten Korn hinunter.
Anton räuspert sich und richtet sich vor seinem Tresennachbarn auf. Er streicht über seinen Bart und antwortet mit ruhiger Stimme doch in einem Tonfall, der wie mit einer Rasierklinge einen feinen Schnitt über Thomas‘ Brust zieht: »Mit Verlaub … du hast kein Geld? Kann ich dann davon ausgehen, dass du diesen Kaffeetafelersatz hier mit dem Knopf bezahlst, der an deinem Hemd fehlt?«
Thomas fasst sich an die Knopfleiste vor seiner Brust und schluckt. Er wirft einen unsicheren Blick zum Kneipenbesitzer und schüttelt den Kopf.

Unvermittelt geht die Tür auf. Straßengeräusche dringen herein. Ein paar Schneeflocken tanzen dazu und küssen glänzend die schäbigen Bodenfliesen im Eingangsbereich. Auf der dünnen Schneedecke des Bürgersteigs sind zwei schmale Reifenspuren erkennbar. Anton springt zur Tür und hält sie auf.
»Immer rein in die gute Stube«, begrüßt er den Rollstuhlfahrer, der mit glücklich leuchtenden Augen die rote Metalldose in seiner Hand nach oben hält.
»Das glaubt Ihr nicht, Leute! Das glaubt Ihr nicht!«
»Jetzt komm‘ erstmal rein, Johnny, ich heize nicht für draußen!«, hallt es vom Tresen. Der Glatzkopf nimmt ein frisches Glas vom Regal und greift nach einer Flasche. »Ein Pils, Johnny, wie immer?«
»Nein. Heute nicht. Heute will ich mal das Gute vom Fass. Und ich gebe ’ne Runde, Männer. So! Weil Weihnachten ist«, er lacht, »zumindest in meiner Sammeldose.«

***

Johnny ist auf die Toilette gefahren. Das Sitzen in der Kälte greift seine Blase an. Die Metalldose hat er mitgenommen. Wie einen Schatz hatte er sie mit den schwarzen Strickhandschuhen poliert, sie dann wieder zwischen seine Beine gestellt und war anschließend grinsend durch die Tür in der hintersten Ecke verschwunden. Anton war ihm gefolgt.

»Brauchst du Hilfe?«, fragt er, als er sieht, wie Johnny sich mühsam aus dem Sitz nach oben zieht.
»Danke, aber ich kann ihn noch ganz gut alleine ausschütteln«, antwortet der und lacht versöhnlich, »aber nett, dass du fragst«, seine Augen bekommen ein Leuchten, »heute sind überhaupt alle nett. Das muss dieses Weihnachten machen. Stell dir mal vor …«, er verzieht seinen Mund zu einem breiten Grinsen und klopft auf die rote Metalldose, die er auf dem Fliesenvorsprung neben sich abgestellt hat, »weißt du, was ich bekommen habe? Von einer alten Dame mit Stock und Hut? Du wirst es nicht glauben …«, er hält inne und mustert Anton genauer, »Du bist nicht von hier, stimmt’s? Aber dir kann ich es sagen, denke ich. Du hast ehrliche Augen …« Johnnys Blick füllt sich mit einem Tränenschleier, »sie hat mir frohe Weihnachten gewünscht und gesagt, das Geben mache ihr am Heiligabend am meisten Freude und darum würde sie mir etwas geben, damit ich einen schönen Heiligabend verbringen kann … einhundert Euro … ich sage dir einhundert Euro hat sie durch den Schlitz geschoben. Das glaubst du nicht, oder?«

Vor Freude erschöpft lässt er sich wieder zurück in den Rollstuhl fallen. »Thomas da draußen«, fährt er fort, »hat auch immer etwas für mich übrig. Oder seine Kleinen. Ich sitze häufig an der Ecke vor dem Supermarkt. Die Kinder bleiben manchmal stehen, fragen, wie es mir geht … feine Kinder hat er, der Thomas. Ganz feine Kinder …«, er sieht Anton plötzlich erstaunt an, »Was macht der eigentlich heute in der Kneipe?«
»Nun«, erwidert Anton lächelnd, »das fragst du ihn am Besten selbst … Heiligabend ist noch nicht vorbei. Und …«, er streicht über seinen Bart, »frohe Weihnachten für dich und alle, die heute um dich sein werden. Ich muss weiter, mach’s gut.«
»Um mich sein werden? Wie meinst du das? Ich … äh, muss jetzt erstmal das Geschäftliche hier drin erledigen, dann komme ich raus zu euch.«
Die Tür ist hinter Anton zugeschlagen. Johnny guckt verwirrt und ruft ihm laut hinterher: »Was ist denn jetzt mit dem Glas vom Fass?«

***

In der Zwischenzeit hatte der Glatzkopf vier Gläser gezapft und auf den Tresen gestellt. Anton tritt dicht an Thomas heran, der sein Bierglas schon zwischen seinen Händen dreht. Der wendet jedoch bewusst den Kopf ab und fixiert die tanzenden und Figuren des nächsten Musikvideos. Es ist ein Weihnachtslied. Eine Gruppe junger Menschen ist weiß gekleidet und tanzt um einen goldenen Weihnachtsbaum, der auf einem Berg im Schnee steht. Über ihnen glänzt ein Sternenmeer. Leise Harfenmusik und Glöckchen klingen zu den zarten Stimmen eines Kinderchors.

»Das hier …«, fängt Anton trotzdem so leise an zu reden, dass es nur Thomas versteht, »… das hier ist keine Lösung. Und das weißt du. Auch wenn du nicht studiert hättest. Du bist ein Vater. Auch ohne Weihnachtsbaum und Geschenke. Und es ist Weihnachten. Auch ohne Baum und Geschenke. Es wird auch für euch eine Möglichkeit geben, den Geist der Weihnacht zu spüren. Du musst nur aufhören, dich selbst einen Verlierer zu nennen. Du sorgst alleine für deine Kinder? Du liebst sie? Wie kannst du dann auch nur eine Sekunde an dir zweifeln?«
Anton tippt mit seinem Zeigefinger sanft auf Thomas‘ Brust und sagt, »Denk mal darüber nach, bestelle dir einen Espresso und gehe dahin, wo du hingehörst und wo man auf dich wartet. Nicht jeder hat das, was du hast. Sieh dir Johnny an. Wer wartet auf ihn …?«

Schlagartig dreht Thomas den Kopf. Doch wo eben noch der Typ aus der Diskokugel stand, tanzt nichts als farbige Luft im Raum.

Schluss – Über den Wolken

»Oooh! Ich wollte schon ein zweites Ticket bestellen.«
»Wozu?«, fragt Anton und landet auf seiner Wolke. Er strahlt wie ein Honigkuchenpferd, bereit sich der lobenden Worte von Cäcilia zu stellen.
»Wozu? Das fragst du noch?«, erwidert die jedoch pikiert, »ich dachte, die alte Madam zu Beginn hört überhaupt nicht mehr auf zu plappern. Das war ja nicht auszuhalten, an keiner Stelle war Stille im Stall.«
»Oh, da verwechselst du jetzt aber etwas«, versöhnlich klimpert Anton mit den Wimpern, »ich war nicht in Bethlehem sondern in Berlin. Und die Madam war die wunderbare Helene Seib, die ich sehr in mein Herz geschlossen habe.«
»Na, das ist aber schön für dich. Im Übrigen kannst du dir die Klimperei mit den Augen sparen. Du steckst nicht mehr in dem Schwesternkittel, sondern partiell hinter einem Feigenblatt … ah, apropos! Ich erwarte die Auflösung des Rätsels. Aber prontoto!«
»Gemach, gemach, werte Cäcilia. Es heißt pronto. Und dort wo ich war heißt es hingegen: ‚So schnell schießen die Preußen nicht‘ Also lass mich in Ruhe hier oben ankommen und mit dir noch etwas unverfänglich plauschen. Dieser Figurenwechsel ist nicht ganz unanstrengend gewesen.«
Cäcilia schnappt nach Luft und mimt erneut den Kolobristyle. Flügel schlagend schwebt sie mit verschränkten Armen und flatternden Stirnfalten angriffslustig über Anton.
»Und jetzt … sage mir doch, wie habe ich dir denn gefallen?«, ignoriert der jedoch die provokante Körpersprache und lächelt versöhnlich, »mochtest du den Kater mehr oder den Zeitreisenden in seinem karierten Anzug? Oder doch vielleicht die Schwester? Hm? Was hat dein Herz mehr berührt?«
»Mein Herz?«, schnaubt Cäcilia, »Das hat schon lange nichts mehr berührt!«
»Na, dafür war dein musikalisches Timing aber geradezu fantastisch angesetzt. Wie du das Herz von Emma zum Reden gebracht hast und dann diese festliche Musik in der Kneipe, also das war grandios, meine liebe Cässi, wirklich grandios!«
Cäcilia lässt die Spannung aus den Armen und glättet ihre Stirn. Langsam schaukelt sie auf Antons Wolke herab. Sie landet bäuchlings, verschränkt die Hände unter dem Kinn und blickt über den Rand hinunter zur Erde.
»Findest du das wirklich?«, fragt sie leise und sieht Anton von der Seite an. Nur ihre Augen bewegen sich dabei in seine Richtung.
»Ja, das finde ich wirklich«, sagt Anton, »ohne passende Musik im richtigen Moment ist alles nichts im Leben. Wo Worte keinen Weg zum Herzen finden, schaffen es Melodien. Aber wem erzähle ich das, Mademoiselle?«
Cäcilia kichert leise, »Also wirklich Monsieur, alter Charmeur.«
»Meinst du, wir sollten zur Feier des Abends noch einmal durch das Fernrohr sehen?«

***

»Ein wahrhaft unterhaltsamer Film. Und alle sahen soooo viel zufriedener aus«, meint Cäcilia, als das Summen im Inneren des Fernrohres verstummt, »hast du gesehen, wie glücklich der Vater seine Kinder beobachtet hat, als sie um den Baum gesprungen sind und wie er dem Obdachlosen dankbar zugeprostet hat?«
»Ja klar, Cäcilia«, antwortet Anton und sieht sie verträumt an, »die Helene, die mochte ich besonders. Die hat es mir richtig angetan.«
»Das ist mir nicht entgangen, Monsieur.«
Die Arme unter dem Kopf verschränkt, betrachtet Anton die Wolke über sich und säuselt, »ja, so gefällt mir der Weihnachtsabend schon viel besser. Und jetzt, da ich weiß, dass die liebe Helene noch zum Weihnachtsessen zur alten Knüttel hinauf gegangen ist, bin ich auch viel beruhigter, was sie angeht. Ich verstehe ja, dass es ihr Freude macht, andere zu beschenken, aber dann so ganz allein da zu sitzen …«
»Nein, das hätte sie nicht verdient. Da hast du ganz recht, Anton.«
Cäcilia kichert plötzlich hinter vorgehaltener Hand uns stupst Anton in die Seite, »besonders schön fand ich ja den Auftritt der Chippendales im Schwesternzimmer. Da hat sich die fromme Helene ja etwas Originelles einfallen lassen für die arbeitende Bevölkerung.«
»Woher kennst DU denn die Chippendales?«
»Ach, ich habe da so meine Quellen. Du weißt schon, dieses gelangweilte Von-der-Wolke-gucken-Ding, das wir beide so gut drauf haben … ab und an bekomme ich da Gesellschaft von jemandem, der gerade von der Erde zurückkehrt und bei mir einen Zwischenstopp einlegt. Meine fliegenden Nachrichtenblätter sozusagen. Ach übrigens, wo wir gerade bei der Wahrheit sind, was bitte hat es denn nun mit dem vibrierenden Feigenblatt auf sich, hm?«
»Oh, ich dachte, die Frage hättest du längst vergessen. Übrigens waren das keine Stripper sondern nur ein Herrenballett des dortigen Revuetheaters mit kurzen Hosen und Weihnachtsmützen.«
»Aha? Äääh … vergessen? Was glaubst du denn, warum ich das Harfengeklimper so lange durchgezogen habe. Mein größtes Laster ist meine Neugier. Du weißt doch, wie wir Frauen sind. Ich meine, du kannst dich doch bestimmt daran erinnern.«

***

Anton konnte sich erinnern. Und ewig wird er sich an Cäcilias Enttäuschung erinnern, als seine Antwort auf ihre Frage war, mit aufgestütztem Kopf wortlos in die Unendlichkeit des Himmel zu starren und süffisant zu lächeln.
»War ja klar, dass du kneifst«, hatte sie nur dazu geseufzt und die Augen verdreht.
Anton indes geriet ins Träumen, streckte sich und gähnte. »Wenn du später wegfliegst«, säuselte er noch, »weck mich bitte nicht auf. Wir sehen uns wieder, Liebes, im nächsten Jahr. Ich freue mich jetzt schon wie wild auf deine Harchzzzzzz …«

© Jo Lenz (24.-31.12.2013)

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