Jimmy The Worm 4/30


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Geschichte 4/30 | Schlagworte von @methos2604
Metropole * (Setting)
Straßenschlucht *
Steinkreis *
schlucken *
leuchten *
aquamarin
*

2.148 Wörter = 8.503/ 50.000

»So ein Quatsch!«, murmelt Pünktchen und grinst. Nur ein wenig, ich sehe es dennoch. Er hat auch allen Grund zu grinsen. Es geht ihm besser. Außerdem ist er schneller als ich. Das gefällt ihm. Er weiß schon, welche Bewegung ich als nächstes machen werde, bevor ich mich auch nur einen Millimeter bewege. Das haben wir ein paar Mal probiert, und er hat immer gewonnen. Wenn ich ihn schnappen wollte, damit er seine bittere Medizin bekommt, lief er so oft davon, bis mir vor Wut mein Hut zur Decke flog und mit der Spitze stecken blieb. Erst dann blieb er auf dem Fensterbrett sitzen und gab sich brav.
»Ich finde Quatsch toll!«, da lasse ich mich nicht beirren.
»Hatsch!«, er schließt das kranke Auge, und es sieht aus, als zwinkere er mir zu, »ich wette, du kannst nicht jetzt gleich weitererzählen, oder? Na? Stimmt’s?«, vor Aufregung zittern an seinem zur Seite geneigten Kopf die Schnurrhaare.
»Es ist nach Mitternacht. Wir sollten schlafen.«
»Ja, aber ich will jetzt mal eine echte Geschichte von dir hören.«
»Und was war das, was ich dir erzählt habe?«
»Na, ganz einfach Quatsch, sag ich doch. Ich will mal was mit, mit, mit… Superhelden! Auja!«, er springt vor Freude den Vorhang zur Schlafkoje empor. Klettert, klettert, erreicht meinen Sonntagsverhexenmantel… und plumpst damit zu Boden, denn mein geliebter Umhang hängt immer nur lose auf dem Bügel. Er reibt sich das Hinterteil, »einem Superhelden wäre das nicht passiert«, seine grünen Augen leuchten, »ich will, wenn ich groß bin…«
»Ich glaube, ich kann keine echte Superheldengeschichte erzählen«, fall ich ihm ins Wort. Mir steht nicht der Sinn nach Wenn-ich-mal-groß-bin-Ideen. Das ist ein heikles Thema bei uns Hexen. Weil wir einfach niemals eine Wahl hatten.
»Orrrr. Ich will aber, dass du das kannst! Ich werde auch ein sehr braver Patient sein, versprochen«, er hebt seine Pfote und hält sie so lange in der Luft, bis ich mit dem extra knorrigen Finger dagegen tippe.
»Kein Weglaufen mehr und Hakenschlagen?«
»Hmjain. Aber nimmst du bitte, bitte den mit dem Leuchten?«, bettelt Pierrot, »und der braucht außerdem noch einen Namen. Keiner heißt immer nur ›Mensch‹!«
»In meinen Geschichten kann ich so ziemlich alles genau so sagen, wie ich möchte.«
»Trotzdem.«
Ich gucke auf die Uhr. Koche mir einen Tee. Perry-Pünktchen spielt mit dem Verschluss einer Tube Kräuterhexwerkkraut und ist sich seiner Sache sicher.
»Also gut«, sage ich.
»Ja, nimmst du ihn?«
»Also gut, wollte ich sagen, ich erzähle gleich die nächste Geschichte. Um was es darin geht, werden wir ja sehen.«

***
Jimmy The Worm

»In einem Wolkenkratzer, der gar nicht zu den wirklich echten Wolkenkratzern zählte, weil seine Dachspitze nur bei sehr verhangenem Himmel an den Wolken kratzte, war der Fahrstuhl ausgefallen. Jimmy The Worm, Kunststudent aus Korea, der eigentlich Jimin hieß und der jeden Tag Karten mit feinen schwarzen Linien bekritzelte, und eben aus seinem Lieblings Craft-Shop Papiernachschub besorgt hatte, schleppte sich schwer atmend die letzten Treppenstufen zum achten Stock  hinauf, als er plötzlich Hilferufe vernahm. Er hatte extra die Feuertreppe gewählt, weil er auf keinen Fall seinem Bankberater begegnen wollte, der eine Etage unter ihm mit zwei schrecklich kreischenden Papageien lebte, und zur Mittagszeit gerne einen Abstecher in seine Wohnung machte, um nach eben diesen Schreihälsen zu sehen.

Den Spitznamen ›The Worm‹ hatte Jimmy der Tatsache zu verdanken, dass er als Kind scheinbar durch jede noch so kleine Lücke gepasst hatte, weil er so schlank und gelenkig war. Nachbarn kamen damals zu seiner allein erziehenden Mutter und liehen Jimmy für Geld bei ihr aus, weil eins von deren Kleinkindern in die Zwischendecke oder hinter die Holzverkleidung der Veranda gekrochen war, als die Eltern gerade Essen vorbereiteten oder einfach nur unaufmerksam waren. Zu Henry Bluff, dem Bankberater, hätte der Name Wurm allerdings auch gut gepasst, da dieser Mensch so schmierig war wie überreife Bananenschalen, und weil er jede Möglichkeit nutzte, um speziell Kunststudenten, die er für Studienkredite beriet, auf eine unangenehm kriechende Art und Weise den Hof zu machen, so auch Jimmy The Worm, der allerdings Jungs in seinem Alter bevorzugte, die dem jungen George Clooney ähnlich sahen. Von beidem war Bluff Welten entfernt.

Erneut hörte er die Rufe um Hilfe, wie aus der Tiefe eines Höllenschlunds. Vielleicht kommt es auch von außerhalb, dachte er. Hielt inne. Blieb auf der letzten Stufe stehen. Könnte einfach durch die Tür gehen und niemals etwas gehört haben. Denn das riet ihm sein Verstand. Sprach zu ihm, er solle weitergehen und einfach nichts hören, weil oben auf dem Tisch eine Liste von Leuten lag, die ein Bild bei ihm bestellt hatten, das er kritzeln sollte und die dringend darauf warteten. Noch dringender, als diese Menschen seine Bilder, brauchte er die Kohle. Mit den vorhandenen Aufträgen würde er locker seinen Mietanteil einspielen und die Hauptlast nehmen, denn das Leben in einer Metropole wie New York musste hart erarbeitet, geschenkt oder durch krumme Dinger gedreht werden. Trotzdem stand er. Wartete ab. Blickte zu dem kleinen Fenster der Zwischenetage. Es war verschlossen, wie es sein sollte. Er würde gern herausfinden, wie ernst die Rufe scheinen und ob er sich vielleicht auch einfach nur getäuscht hatte. Plötzlich wirkte die Enge der Feuertreppe beklemmend. Er starrte auf die Stahltür, vor der er zum Stehen gekommen war. Erneute Rufe. Gurgeln in der Stimme. Er drehte den Kopf zur Treppe, die nach unten führte. Für den aktuellen Monat brauchte er noch weitere sechshundert Dollar, auf die sein Mitbewohner wartete. Im Jutebeutel mit der Superhelden-Collage freute sich das Papier auf seinen künftigen Zweck. Aber wenn ein Mensch Hilfe brauchte, und er vielleicht gerade der einzige andere Mensch war, der das mitbekam? Konnte er das dann ignorieren? Er dachte an seine Comic-Sammlung. Dachte daran, wie er schon als Junge anderen Menschen half, ihre Lieblingsmenschen wiederzufinden. In seiner Heimatstadt… na gut, in seinem Viertel, haben sie ihn an manchen Tagen wie einen Helden gefeiert. Das lag nun schon lange zurück. Seit er in New York lebte, zählte er eigentlich nichts. Lediglich seine Bilder erhielten Beachtung. Aber meist nur für sich selbst. Der Künstler war einfach einer von vielen. Noch stand Jimmy im Nebel hinter seiner Kunst. Noch. Egal. Er war jung. Er würde noch viel Zeit haben. Mit Schwung lief und sprang er die beiden Treppenabsätze bis zur darunter liegenden Etage hinab. Legte die Hand auf die Klinke der Feuerschutztür und erschrak. In der nächsten Sekunde umhüllte ihn ein Lichtkreis und er wurde von unsichtbarer Kraft durch das Schlüsselloch auf die andere Seite gezogen.

›Boah, DAS war krass krass!‹, staunte er und stand nun am Anfang des Ganges der siebten Etage. Er sah an sich herab. Spürte weichen Teppich unter den Sneakers und stellte fest, dass er dasselbe unaufdringliche Muster trug, wie der Kunststoffbelag auf seiner Etage. Als er erneut die Hand auf die Klinke legte, weil sein jugendlicher Spieltrieb natürlich herausfinden wollte, ob das Ganze auch in die andere Richtung funktionierte… geschah nichts. Er drückte die Klinke. Die Tür blieb verschlossen. ›Schöner Feuerschutz, au Backe!‹, sagte er und ging aus unerfindlichen Gründen schnurstracks auf die Tür zu, die zu der Wohnung unter seiner führen musste. Und er wusste, wer dort wohnte.

Im Sommer standen die grässlich klingenden Viecher auf dem Balkon, und ihre Schreie durchstießen die Lüfte der Straßenschlucht. Manchmal klangen sie, wie die Hupen der Taxis. Manchmal wie Sirenen. Beides waren seit zwei Jahren seine Zuhause-Geräusche. Okay, leider eigentlich alles, denn die Papageien wohnte ja schon dort, bevor er zu Puma, IT-Spezialist und Cousin des Sohnes der Freundin seiner Tante… Damals stieg er mit Puma als erstes aufs Dach. Von dort konnten sie die Brooklyn-Bridge sehen. Und als er das erste Mal darüber spazierte, um Manhattan und überhaupt um seine neue Heimat zu erkunden, war er sprachlos gewesen. Niemals hätte er vermutet, wie schön die künstliche Landschaft aus aneinander und hintereinander aufgereihten architektonischen Kreationen sein konnte. Eine Bergwelt, die so ganz anders als die Berge seiner Heimat leuchtete und ihn dennoch auf der Stelle für sich einnahm. Ganz zu Schweigen vom Glanz der Abendsonne auf dem Wasser vom East River zu ihren Füßen.

Als er die Hand auflegte um zu lauschen, stand er auch schon auf der anderen Seite. Erschrocken griff er an den Rucksack, als wolle er sich daran festhalten und sich besinnen, wirklich da zu sein. Er fühlte den Block Zeichenpapier und war sich sicher. Er war wach. Und noch etwas fühlte er. Ach ja, fiel es ihm wieder ein, ich habe ja diesen Stein mitgehen lassen. Auf einer Art Beistelltischchen hatte in der Nähe vom Craft-Shop ein alter Mann einen Steinkreis gelegt. Die Steine waren groß wie Kuckuckseier und leuchteten aquamarin. Der Mann, der sie vermutlich verkaufen wollte, saß an die Hauswand gelehnt und döste. Neben ihm saß ein Hund, der noch älter aussah, schwer atmete und blind war. Einmal am Tag sollst du etwas Verbotenes und etwas Riskantes tun, hatte Puma ihm bei seiner Ankunft eingebläut. Meistens hielt fürs Verbot die Ampelphase her. Ob es auch etwas Gemeines sein durfte, hatten sie dabei nicht besprochen, doch die Steine hatten ihm so gut gefallen, er liebte die Farbe so sehr, dass er sich nicht zurückhalten konnte, und während er jeden Stein etwas hindrehte und verschob, als wolle er sie genau betrachten, stibitzte er mit der Geschicklichkeit eines Taschendiebs einen davon mit selbiger Hand und verbarg ihn in seinen Ärmel. Erst am Ende des Blocks schob er den Ärmel zurück, betrachte seine Diebesgut mit gemischten Gefühlen und steckte den Stein zum Papier. Er wollte sehr schnell vergessen, wie er dazu gekommen war.

›Der Stein‹, flüsterte Jimmy, ›er fühlt sich ganz warm an.‹

›Hilfe‹, rief die Stimme, die nur noch sehr leise und röchelnd klang, und Jimmy erinnerte sich, wieso er hier und noch nicht wieder an seinem Schreibtisch saß, ›hier! Ich – bin – hier…‹, mit gebrochener Stimme, die nach Sterben klang. Kurz bevor sie vom Höllenschlund verschluckt würde.

›Okay‹, sagte Jimmy, ›und ich brauche dringend Punkte fürs Karma‹, er musterte den  quadratischen Flur, von dem vier Türen abgingen. Der Grundriss der Wohnung war ähnlich der von Puma. Instinktiv wählte er die Tür zum Balkonzimmer. Er dachte an den Stein. Er berührte die Tür… und stand im selben Moment dahinter, ohne dass das Türblatt sich bewegt hätte. Sofort sah er, was er lieber nicht gesehen hätte. Unter einem massiven Holzschrank lugte das entblößte Hinterteil von Henry Bluff hervor. Der Rest des Mannes war verschwunden. In Jimmys Vorstellung musste dieser Mensch so platt sein, wie die Füße seines Onkel Yong. Er musste schlucken, schnappte sich ein Kissen vom Sofa und legte es, mit zur Seite gedrehtem Kopf, leicht angewidert, auf die fleischigen Pobacken seines Bankberaters.

›Mein Kopf – steckt – im…‹, Henry Bluff schien mit allerletzter Kraft zu sprechen. Dabei rutschte das Kissen von seinem heiklen Platz.

›Nicht reden!‹, rief Jimmy, verzog das Gesicht, als hätte er auf eine vergammelte Zitrone gebissen, und schob das Kissen mit dem Fuß… was nicht gelang, und also musste er sich doch wieder bücken, um die Hände zu nehmen… schließlich lag es, wo es sollte, und er wünschte sich Sekundenkleber an die Unterseite und verfluchte die Existenz von Karmpunktkonten.

›Sei still! Sei still! Sei still!‹, krächzte einer der Graupapageien. 

Boah, wie hässlich, dachte Jimin, wieso will einer solche Vögel in der Wohnung?

›Ich… mein – Ko…‹, die Worte kamen nur noch so gebrochen und schwach, dass Jimmy The Worm keine Zeit mehr blieb um lange nachzudenken. Draußen heulten Sirenen. Bis die Leute vom New Yorker Fire Department die Stockwerke geschafft hätten, wäre Bluffs letzter Zug genommen, dessen war er sich sicher. Es musste sofort etwas geschehen. Er wusste, dass es aussichtslos war, trotzdem legte er die Hände an das antike Stück, so als gäbe es auch nur den Hauch einer Chance, dass seine schmächtige Figur es mit zweihundert Kilo Holz aufnehmen könnte. Ein Lichtkreis. Ein Sog. Im nächsten Moment stand der Schrank. Auf dieselbe unerklärliche Weise, wie er durch die drei Türen gelangt war, kaum, dass er daran gedachte hatte hindurch zu gehen. 

›Boah, war das krass! Haben Sie das gesehen?!‹, Jimmy war aus dem Häuschen. Als er sah, dass Bluff sich bewegen wollte, stoppte er ihn, nahm eine Decke von der Couch und legte sie über den nackten Mann, ›ich rufe sofort Hilfe. Sie könnten innere Verletzungen haben. Bleiben sie ganz ruhig liegen!‹, Jimmy wollte nicht wissen, wieso Henry Bluff am helllichten Tage nackt von seinem eigenen Schrank erschlagen worden war. Vielleicht war es harmlos. Kakao verkleckert im Büro. Poltergeister? Eruptionen? Er wählte den Notruf.

›Superheld! Superheld! Superheld!‹, rief der andere Papagei. Jedenfalls dachte Jimmy, dass es der andere war.

›Das stimmt‹, sagte Bluff, der nun wieder Luft bekam und noch ein ›Danke!‹ hinterherschickte.

›Ich warte draußen, bis die Leute von der Rettung da sind‹, erwiderte Jimmy und verkrümelte sich auf den Gang. Mehr Karma wollte er nicht in diesen Wänden lassen. Ein Gedanke aber ließ ihn nicht los. Das Kissen hatte am Ende erstaunlich gut auf Bluffs Hintern gehalten. So, als wäre es gut festgeklebt. Er berührte den Stein durch den Leinenstoff und spürte, dass er immer noch angenehm warm war.«

Einstimmung aufs Schreiben mit Aquamarin nach Gelb-Grün-Schwäche 😉

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