Rosalie


Wenn ich könnte, wie ich wollte, wäre ich längst bei Rosalie. Sie sehnt diesen Tag jedes Jahr herbei. Davon abgesehen, spüre ich etwas vom Sprudeln kindlicher Vorfreude in meinen Adern. Wie ein letztes Aufbäumen vorm zu Boden gehen. Weil diese Schwere sich nicht abschütteln lässt.

Als wir uns vor vielen Jahrzehnten kennenlernten, waren meine Beine jung. Das Leben leicht. Niemals schlug ich ihre Bitte nach Besuchen ab. Ich nahm mir die Zeit. Wir nahmen uns Zeit für Geschichten und Erinnerungen. Ihre aberwitzigen Ideen. Selbst, wenn das Leben im Laufe der Jahre Herausforderungen und Proben bescherte … mit Rosalie wurden daraus imposante Abenteuer. Im Kopf. In unseren Gesprächen. Bei der gemeinsamen Zeit im Moor.

Vor bald zwölf Monaten veränderte sich meine Welt schlagartig. Außer Stande, etwas über das Atmen hinaus zu leisten, ließ sich auch ein Übergreifen auf Rosalies Welt nicht verhindern. Von einer Sekunde auf die nächste verlor ich meinen wichtigsten Menschen. Auf so sinnlosem Weg, dass zurück nur Nacht um mich blieb. Ein illegales Straßenrennen mitten in der Stadt. Es endete in einer Menschenmenge. Nahm mir das Liebste. Alle Wut und Trauer brachte es nicht zurück. Als Letzte unserer Familie wandelte ich wie ein Geist durch die Räume unserer Kindertage. Über Parkett und zwischen hohen Wänden. Ein Geist. Weil Marga unter die Räder gekommen war. Ich wandelte ohne Bücher von der Bibliothek ins Kaminzimmer. Hungerte vor den gefüllten Schränken der Küche. Verschloss Augen und Türen, weil das Vermissen unerträglich war. Es blieb nur Leere.

Auf dem Kalenderblatt tanzt die fett gedruckte Vier über dem September. Ida. Isa. Irmgard. Rosa. Rosalie. Suitbert. Ihrer aller Namenstag. Ich ziele mit der zerknüllten Drei auf den Papierkorb. Und treffe nicht. »Suitbert«, sage ich leise und verkneife mir, wie jedes Jahr, den Kommentar nicht, »wer heißt denn so?«, dann trinke ich den letzten Schluck Kaffee. Er ist kalt. Wie meine Hand, die sich zitternd von der kobaltblauen Keramiktasse löst und in der Keksdose nach einer Kokosmakrone angelt. Erfolgloses Zubeißen. Ich werfe das alte Gebäckstück zurück. Metallisches Klappern. »Hartes Gelumpe!«, raune ich zum Gehstock gewandt und nehme ihn von der Stuhllehne, nachdem ich den Halt meiner Wahlzähne überprüft habe. Marga hatte den Begriff für unsere Prothesen erfunden.

Vor dem Spiegel betrachte ich den Sitz des Jäckchens. Am unteren Ende schwebt ein verwaister Knopf. Ich befreie die übrigen und knöpfe erneut. Diesmal fummle ich zuerst den unteren durchs Loch. So, wie wir es als Kinder gelernt haben. Als die Rebellische von uns beiden, knöpfte ich mit Vorliebe Blusen und Jacken immer von oben nach unten. Nahm zuvor Augenmaß. Und lag stets richtig. Heute nicht. Trauer macht demütig. Es klingelt. Ich sehe zur Uhr, »das muss er sein!«

Vor dem Eingang bleibe ich kurz stehen. Schlage den Kragen hoch und setze meinen Hut auf. Dann öffne ich die Tür. Lauer Wind weht mir entgegen.

»Marlene?«

Ich nicke, »und Sie müssen Josef sein«, vermute ich und erschrecke über die Brüchigkeit in der Stimme. Um die Nervosität zu überspielen, drehe ich mich weg und schließe die Haustür. Dieses Zittern. Erst beim dritten Versuch treffe ich das Schlüsselloch. Den Schlüssel verstaue ich in Margas Handtasche, die ihr unser Vater von einer Reise mitbrachte. Die meinige verlor ich damals zeitnah bei einem Wettspiel, und mit ihr seine Gunst. Heute pfeift kein Vogel mehr nach meinen Sünden. Ich steige die drei Treppenstufen hinab. Josef bewegt sich rückwärts vor mir her, ohne mich aus den Augen zu lassen. Verlegen senke ich den Blick auf die griechischen Muster der Bodenfliesen, was generell eine sinnvolle Idee ist. Der Sicherheit wegen. Der Gummipfropfen unter meinem Gehstock hinterlässt kreisrunde Spuren im Staub. Auf dem Gehweg angekommen, stütze ich mich am Geländer ab und verschnaufe. Ich hoffe, dass es die Aufregung ist, denn wie bewältige ich sonst den Weg zu Rosalie? Aus Josefs freundlichem Gesicht leuchten mich hellgraue Augen an. Ich starre entgeistert zurück, als mir seine Aufmachung deutlich wird. Um seinen Hals hängt eine Kamera. Will er etwa…?

Wie auf Kommando streckt er seinen Arm aus, und schon bedroht mich ein Mikrofon mit gelbem Plüschaufsatz. Josef öffnet den Mund. Setzt zum Reden an. Rasch lege ich den Finger auf meine Lippen und schüttle den Kopf.

»Können wir mit dem Interview später beginnen?«, erwartungsvoll sehe ich ihn an, »ich würde lieber erst losfahren. Kennen Sie denn den Weg zum Moor?« Ich habe ihn mir größer vorgestellt. Habe einen jungen, schlaksigen Mann erwartet. Mit dunklen Locken und einer schwarz umrandeten Brille. Entsprechend der Comicfigur seines Profils. Stattdessen steht ein blasser Mensch vor mir. Er ist kaum größer als ich und bewegt sich vermutlich ebenfalls in der zweiten Lebenshälfte, wenn auch nicht so kurz vor Schluss. Gekleidet ist er wie ein angestaubter Banker.

Josef hält mir die Beifahrertür auf. Wartet, bis ich die Krücke neben den Beinen verstaut habe. Für die Schönheit des polierten Holzes ist das ein Schimpfwort, enthält allerdings die passende Bitterkeit. Seinen Vorschlag, den Krückstock in den Kofferraum zu legen, lehne ich kategorisch ab. Ich werde den geschwungenen Griff nicht eine Sekunde loslassen.

Meinen eigenen Stock habe ich wütend verbrannt. Als ich plante, niemals wieder das Haus zu verlassen. Stattdessen darauf zu lauern, dass Marga mich zu sich holt. Aber diese blöde Schnepfe lässt auf sich warten. Ich werd’s ihr heimzahlen. Früher oder später. Und jetzt bediene ich mich eben, ohne zu fragen, ihrer Sachen.

»Können Sie da vorn bitte rechts ranfahren?«, frage ich, nachdem wir die Hauptstraße erreicht haben. Auf dem Mittelstreifen parken Taxis. Rechts reihen sich die Geschäfte wie bunte Marktstände aneinander. Viel zu viel Farbe für meine Augen.

»Bei dem Blumenladen, meinen Sie?«

Ich nicke.

»Wird gemacht.«

Josef parkt. Er öffnet mir die Tür, »werden Sie lange brauchen?«, seine Fingerkuppen krallen sich über den Türrahmen. Sie sind gelb.

»Für eine Raucherpause wird es reichen«, sage ich und nicke ihm dankend zu, als er seinen Arm reicht und mir aus der Sitzposition hilft.

»Schaffens Sie’s alleine, Marlene?«

»Ich will«, sage ich und wackle zum Geschäft.

Zwei Zigarettenlängen später bin ich zurück.

»Eine Rose«, sagt er anerkennend mit Blick auf meine Hand, und ich bin dankbar, dass er nicht weiter nachbohrt. Er wird schon alles früh genug erfahren und seine Geschichte bekommen. Das ist unser Deal. Die Wahrheit für seine Begleitung und den Fahrservice. Und keine Einwände gegen das, was ich vorhabe. Mit einer leichten Verneigung nimmt er mir die Rose ab. Seine Kamera liegt auf dem Armaturenbrett. Er legt mein blumiges Geschenk für Rosalies Namenstag dazu, »können wir dann los?«, fragt er.

»Wir können«, sage ich und halte mich mit beiden Händen an der Krücke zwischen den Beinen fest, während Josef mir dabei hilft, den Gurt anzulegen. 

»So geht das aber nicht. Sie müssen schon loslassen, sonst muss ich sie quasi fesseln«, aus mir unerklärlichen Gründen lacht er. Fragend sehe ich ihn an. Verstehe dann aber und eine Hand nach der anderen lasse ich zu, dass er mir den Gurt über den Körper legt und ich meine Arme trotzdem bewegen kann. In dem Moment komme ich mir unendlich dumm und furchtbar alt vor. Und habe wohl recht damit.

»Darf ich Sie etwas fragen?«, Josef fädelt seinen Oldtimer in den Berliner Feierabendverkehr ein. Ohne meine Antwort abzuwarten, spricht er weiter. Soll mir recht sein, denke ich. Das Licht des Spätnachmittags taucht die Häuserfronten in warme Farben. Es ist mir die liebste Tages- in der mir liebsten Jahreszeit. »Wie sind Sie auf mich gekommen? Ich meine…«, er zögert und lockert seine fliederfarbene Krawatte. Der September hat es in diesem Jahr in sich. Auf dem Bürgersteig springen Kinder in kurzen Hosen über unsichtbare Linien auf den Gehwegplatten herum, als wären wir im Hochsommer.

»Hoppse«, flüstere ich in Erinnerung versunken und sehe, wie Marga sich das Knie aufschlägt und heult.

»Wie bitte?«, Josef klingt irritiert.

Ich drehe ihm mein Gesicht zu.

»Weinen Sie etwa?«, fragt er noch irritierter. Ich schüttle den Kopf.

»Meinen Augen fehlt Feuchtigkeit«, beteuere ich, »darum tränen sie schnell. Ich habe Tropfen dagegen«, bestätigend klopfe ich auf Margas Handtasche.

»Ich meine«, führt Josef seine Frage fort, »Sie hätten auch bei irgendeiner Tageszeitung anrufen können. Die suchen immer Geschichten.«

»Phantastische… wahre Geschichten? Meinen Sie wirklich? Die hätten mich einweisen lassen«, die Worte gehen mir nur abgehackt über die Lippen. Ich kämpfe mich trotzdem voran, »wenn sich jemand auf einem Drachenforum herumtreibt…«, mein Kopf wackelt unkontrolliert. Parkinson lässt grüßen und stülpt sich ungefragt über mich. Mit großer Anstrengung rede ich weiter. Das Zittern in der Stimme bleibt, »…so muss er wohl ein gewisses Maß an Phantasterei in sich tragen. Ist es nicht so?«, ich ringe mir ein Lächeln ab, obwohl mir bewusst ist, dass es aus meinem Gesicht in diesem Zustand eine Fratze macht.

Josef ignoriert es und antwortet seinerseits mit einem Lächeln. Und in dem Moment bestätigt er mir, dass meine Entscheidung für ihn die richtige war. Mit der Hand auf dem Bauch danke ich für das sichere Gefühl. Schweigend sehe ich dabei aus dem Fenster, bis mir die Augen zufallen.

»Wir sind da«, weckt mich Josefs Stimme. Sie klingt, wie aus weiter Entfernung. Rauchig passt sie sich in die Nebelstimmung, in der wir mittlerweile gelandet sind. Mein Herz macht einen kleinen Satz. Sofort spüre ich das Kribbeln in der Magengegend. Es legt sich über den Schmerz in der Hüfte. Trotzdem stöhne ich auf, als ich mich aufrichte.

»Machen Sie langsam, Marlene. Wir haben keine Eile. Dunkel wird es von allein.«

»Das lange Sitzen«, sage ich, »und alt werden wir auch von alleine«, diesmal lache ich laut. Bis der Schmerz verfliegt. Dann bemerke ich Josefs Blick zur Kamera, als er nach der Rose langt, »ehrlich gesagt wäre es mir lieber…«, sage ich.

»Keine Fotos?«, fällt er mir ins Wort.

Ich ziehe entschuldigend die Schultern hoch und nicke.

Er verzieht das Gesicht enttäuscht und nickt trotzdem. Ich bin erleichtert.

Vor uns liegt das Moor. Tote Birkenstämme ragen aus dem dunklen Untergrund. Ihre kargen Äste greifen Halt suchend in die Höhe. Noch lassen sich ihre gefleckten Körper durch den Bodennebel hindurch erkennen.

Leichenflecken, denke ich und denke an Marga. Ich habe sie nochmal sehen wollen. Unbedingt. Und sehe sie seither jede Nacht. Der Fluch der Unnachgiebigkeit.

Durchs Gelände führt ein Holzsteg mit Handläufen und Absperrungen aus Drahtseilen.

»Aber was nützt mir denn eigentlich eine Geschichte, die ich nicht mit Bildern belegen kann?«, fragt Josef und klingt doch leicht entrüstet, »wollen Sie mich vielleicht an der Nase herumführen?«

Wie lange ich das nicht mehr gehört habe. Wer spricht heute noch so? Wer sagt, einen Bären aufbinden oder an der Nase herum führen?

»Wie schön das klingt!«

»Wie bitte? Machen Sie sich jetzt lustig über mich?«

»Ganz im Gegenteil. Ich schätze Ihre Ausdrucksweise, aber … können Sie nicht eventuell … malen?«

»Im Dunkeln?«

»Oh«

»Das haben Sie wohl vergessen, dass es bald Nacht wird. Berlin liegt eine Autostunden hinter uns, und Sie haben hier auf dem Parkplatz noch mindestens zwei Stunden verschlafen.«

»In der Tat, das habe ich wohl«, flüstere ich und drücke den Pfropfen vom Gehstock in den Erdboden, bis der verstärkte Rand versunken ist, »aber Sie werden doch Licht dabei haben«, sehe ich ihn herausfordernd an, »wie wollten Sie mich denn sonst ins Moor und wieder hinaus begleiten? Nur mit Sternenlicht und einem halben Vollmond?«

»Das nennt man dann Halbmond«, sagt er unwirsch.

»Klugscheißen Sie jetzt nicht herum, junger Mann! Damit ist keinem geholfen. Sie bringen mich zu ihr…«

»Ihr? Es ist eine Sie?«

»Was dagegen? Die meisten Drachendamen sind weiblich«, kichere ich und fühle mich mit einem Mal prima. Meine Kraft kehrt zurück. Ich spüre Rosalies Nähe. Fast ist mir, als würde ich sie schon singen hören. Wenn dieser Josef wüsste …, »also starten wir? Bereit, wenn Sie es sind, Herr Josef!«, lachend nehme ich ihm die Rose aus der Hand und gehe voraus. Meine Lungen füllen sich mit frischer Luft. Mit jedem Atemzug gelingt es mir mehr, tief durchzuatmen. Die Schwere weicht meinen Schritten und lässt mich über die Holzbohlen schweben. Endlich sehe ich Marga. Sie hüpft vor mir auf dem Steg herum. Überspringt Lavaströme und Höllenschlünde. Verbrennt sich nicht am glühenden Tor der Absperrungen. Sie muss sich nicht festhalten. Ihre Beine sind jung. Und mir tränen schon wieder die Augen. Ich umklammere Margas Handtasche, so fest ich kann. Ich höre unseren Vater schreien, dass wir leise sein sollen, und wir sehen uns mit rollenden Augen an. Wenn jemand die Drachen verschreckt, dann ist es unser Vater. Darin sind wir uns einig, wie sich nur Zwillinge stumm einig sind.

»Alles in Ordnung mit Ihnen?«, erkundigt sich mein geschichtsgieriger Chauffeur und hat damit zu tun, mir hinterherzukommen. Ich nicke schweigend und ohne mich umzusehen. Verschlucke das Reden. Vor lauter Freude. Die Stimme verschlagen von Erinnerung und gefülltem Herzen. Meine Schritte werden sicherer, je weiter ich gehe. Das Zittern hat längst aufgehört. Ich höre die Farne zur rechten Seite wispern. Das Flüstern der Baumgeister zur Linken. Über uns schießen Fledermäuse durch die Lüfte. Mich beißen die Mücken nicht. Ich habe mich eingeschmiert mit diesem stinkenden Öl. Josef höre ich hingegen fluchen und gegen Stirn und Wangen schlagen. Der Arme, denke ich und vergesse es danach sofort wieder, weil ich endlich, endlich klar und deutlich Rosalies Stimme vernehme. Statt der Krücke halte ich nur noch die Rose, und über der Schulter klemmt weiter Margas Handtasche, und ich sehe meiner Schwester dabei zu, wie sie unbeirrt in die Schlacht zieht gegen Gnome und Trolle.

»Ich dachte schon, ihr habt mich vergessen«, Rosalie reckt den Kopf aus dem Moorwasser und blinzelt mir zu. Der Nebel hat sich gelichtet. In ihren Bernsteinaugen spiegelt sich der halbe Vollmond. Ich sitze auf dem großen Findling, der aussieht, wie ein schlafender Gnom. Marga war sich sicher, Rosalie hätte ihn versteinert. Ich habe nicht daran geglaubt, dass sie das könnte. Wenn sie das Kind eines echten Seedrachens wäre, würde sie jemanden einfrieren und so töten. Aber dann würde sie in einem Ozean leben und nicht in diesem Moortümpel. Ich glaubte eher daran, dass Rosalie zu den Musikdrachen zählte, weil sie so wunderschön singen konnte und ihre Stimme klang, wie die schönste traurige Melodie überhaupt zu klingen vermag.

»Ich werde dich nie vergessen, meine schöne Rosalie«, säusle ich und halte ihr die Rose hin, »alles Gute zu deinem Namenstag!«

»Und wo bleibt deine Schwester? Sie war immer kurz nach dir am Ufer«, Rosalie reckt sich etwas höher empor, so dass ihr Kopf einen Schatten über die Moorlache wirft. Ihr Atem klingt wie pfeifender Wind. Das Wasser perlt von ihren Bronzeschuppen. Ihr Kamm richtet sich auf, und an einigen Stellen ihres wunderschönen Halses sehe ich es glitzern. Das sind ihre verwundbaren Stellen, denke ich, die schönsten an ihr, die ihr zur echten Gefahr werden können… so bezaubernd sie auch sind.

»Tu das lieber nicht«, flüstere ich, stehe auf und stelle mich an den Rand des Wassers. Mit einem tiefen Atemzug mache ich mich, so groß ich kann. Dann betrachte ich mein kindliches Spiegelbild im Wasser.

Josef war zurückgeblieben. Er war mir solange hinterhergelaufen, wie sein Alter es zugelassen hatte. Jetzt wird er irgendwo sitzen und brabbeln, weil er nicht einmal mehr krabbeln kann.

Hoffentlich, denke ich, hoffentlich ist er sitzen geblieben. Zu spät war mir eingefallen, dass auch seine Zeit sich rückwärts drehen würde, je näher wir Rosalie kamen. Fast bedauerte ich, dass ich von ihm verlangt hatte, die Kamera im Auto zu lassen. Ich hätte ihm den Gefallen tun können, und doch ein Bild schießen. Andererseits … in der Truhe unserer alten Kinderzimmer stapeln sich haufenweise Zeichnungen, die sollten für eine phantastische Geschichte genügen. Niemand hatte besser zeichnen können, als meine Schwester. »Tauch lieber wieder unter, du weißt nie, wer sich deinen Platz holen will!«, sage ich und spüre die Sorge darum, mein geheimstes Geheimnis zu verlieren, bevor ich selbst verloren gehe.

Marga und ich waren immer nur so weit wieder jünger geworden, bis wir das Alter erreicht hatten, in dem uns Rosalie zum ersten Mal begegnet war. Damals wollte ich unbedingt größere und gemeinere Gnome als Marga jagen und erschrecken. War darum immer weiter ins Moor hinein geraten, während sie warnend und flehend hinter mir herlief und mich beschützen wollte. Vier Minuten älter. Und damit war Marga eben immer die Ältere und Vernünftigere. Die Zurückhaltende. Und manchmal Schüchterne. War gewesen. Nun ist sie die Tote.

»Sie ist tot«, höre ich mich knapp sagen. Jetzt ist es ausgesprochen, »sie existiert nur noch in meiner Erinnerung«, ich kneife die Augen zusammen und folge meinem Plan. Kopfüber stürze ich ins Wasser. Und stürze doch nicht, weil mich der Mut verlässt. Erinnere mich nur. Wie ich damals im Versinken und Ertrinken von etwas emporgehoben wurde, das sich warm und stark anfühlte. Und als ich wieder zur Besinnung kam, saß meine Schwester auf dem versteinerten Gnom und sang. Plötzlich war da die andere Stimme. Die ich nie mehr vergessen würde. Wir beide nicht. Rosalies Lied erzählte von ihrer Jahrhunderte langen Einsamkeit. Ihrer Verbannung ins Moor, weil sie ihrem Vater nicht folgen und kein Wesen töten wollte. Dabei war sie so wunderschön. So klug. So liebevoll. So stark. Und wir mussten sie einfach lieb haben und so oft wir konnten zu ihr reisen.

»Bald dreihundert Jahre ist es her«, seufzt Rosalie und ihre Stimme brodelt, als sie weiterspricht, »ihr habt versprochen, mich nie zu verlassen. Mir immer Freunde zu sein. Und meine Familie. Wie kann sie jetzt einfach tot sein?«

»Es waren siebzig Menschenjahre«, flüstere ich. Habe die Augen wieder geöffnet und sitze auf dem Stein, »wir haben alle Versprechen gehalten. Haben nie geheiratet. Uns niemals getrennt. Keine Kinder bekommen. Wir waren dein, so oft wir es konnten. Und immer. Und immer …kamen wir zu dir und wurden wieder die Kinder, die du als Gefährten wolltest«, ich spüre, wie mir Tränen heiß über die Wangen laufen. Tränen, gegen die keine Tropfen helfen, »sobald wir zurück waren«, schluchze ich, »kehrten die Spuren unseres wahren Alters zurück.«

Rosalie gurgelt versöhnlich. Da fliegt ein leises Wimmern zu uns herüber. Ich drehe mich um und starre über einen mächtigen Baumstumpf hinweg in die Dunkelheit. Dorthin, wo das Mondlicht nicht durch die Wipfel des Mischwaldes dringt, der an diesem Ort so dicht, wie ein Märchenwald scheint. Dorthin, wo früher oder später der hölzerne Weg zurück zum Parkplatz führt.

»Was war das?«, faucht sie, wenn auch behutsam, um mich nicht zu erschrecken. Ich ahne das Funkeln ihrer Augen. Ich druckse herum. Wische mir übers Gesicht. Sehne Margas diplomatisches Geschick herbei und beichte schließlich knapp, »das muss Josef sein.«

»Du hast jemanden mitgebracht?«

»Ich brauchte ihn, damit er mich zu dir bringt. Ich bin alt geworden in meiner Welt. Und lebensmüde. Ich wollte… ich dachte… mir fehlt Marga. Ich mag nicht länger ohne sie sein.«

»Und trotzdem bist du hier und bringst mir die Rose?«, klingt sie wieder milder.

»Ein Versprechen darf man nicht brechen.«

»Und dieser Josef?«

»Er glaubt an Drachen. Ich wollte ihm deine Geschichte zeigen. Damit du weiterlebst in den Köpfen der Menschen. Und vielleicht könnte er dann an meiner Stelle… «

»Meine Geschichte?«, schnaubt sie erregt. Ihre Schuppen vibrieren. »Und dann drängen sie alle noch mehr ins Moor, als ohnehin schon. Diese Städter! Was hast du dir dabei gedacht? Wenn herauskommt, dass ich hier bin… das war wenig weitsichtig.«

»Du musst mich nicht schelten, Rosalie. Es kann doch niemand bis zu dir vordringen, wenn du auftauchst. Bis sie bei dir ankämen, wären sie alle ungefährlich. Du hörst ihn ja wimmern. Er ist mir solange hierher gefolgt, solange er sich vorwärts bewegen konnte… ich habe das alles nur halb durchdacht. Es kann ja gar nicht funktionieren«, Schluchzer schütteln mich. Schwäche und Überforderung einer alten Frau im Körper eines Mädchens.

»Ihr Menschen seid schon armselige Geschöpfe. Unsereins schwimmt von Beginn an…«

»Die Angeberei steht dir nicht«, sage ich trotzig und balle die Fäuste.

»Und nun?«

Ich sitze mit Josef auf dem Arm auf dem trockenen Baumstumpf. Seine Pausbacken und die kleinen Finger kleben von den Walderdbeeren, die ich ihm gepflückt habe. Er lacht glucksend über einen Feuersalamander, der immerzu Männchen vor ihm macht. Von Rosalie sind nur die Bernsteinaugen zu sehen. Sie schmollt halb versunken mit mir. Halb ist sie verzückt von Josef. Glücklich sehe ich Marga dabei zu, wie sie einen Gnom besiegt und singe ihr Lied. Plötzlich kommt Bewegung in die Drachendame. Rosalie bäumt sich auf. Ich sehe, wie sie ihre Lippen spitzt. Dazu die Augen schließt. Und dann beginnt sie mit ihrer Melodie. Marga lächelt ihr zu und übernimmt die zweite Stimme. Auf meinem Arm schmiegt sich Josef an mich und schmatzt zufrieden. Der Feuersalamander schläft auf dem Bauch des kleinen Jungen ein. In ihrer ganzen Pracht leuchtet Rosalie unter dem Himmel, der nur für sie rot anläuft. Die Nacht ist vorbei. Wieder hat sie erreicht, dass ich noch lebe. Mit Schlafsand in den den Augen suche ich das Zimmer nach Margas Krückstock ab. Vielleicht ist es Staub vom Parkplatz, denke ich kurz und schnuppere an der hoch gewachsenen Rose auf meinem Nachttisch.

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