Nora schlug auf das rohe Fleisch. Sie hatte sich Gäste eingeladen. Zwei Typen von der Arbeit und Vanessa. Vanessa war Noras neue Nachbarin. Beide stammten aus Köln. Beide waren Mitte dreißig. Relativ neu in der Stadt. Und Single.
Ein Schrei ertönte, als die geriffelte Metallfläche auftraf. Am Fenster summten Fliegen. Vor Schreck ließ Nora den Hammer fallen. Erneut zerschnitt ein Schrei die Luft. Er war kürzer und weniger durchdringend, und kam diesmal von ihr. Nora ging jammernd in die Hocke und drückte die Fäuste auf die Zehen. Nach einem kurzen Moment hob sie die rechte und sah zu, wie die drei mittleren Zehen anschwollen. Aus einem sickerte Blut. Fluchend riss sie ein Blatt Küchenkrepp von der Rolle, zerknüllte es, und drückte es so lange auf die offene Stelle, bis das Bluten nachließ. Anschließend faltete sie das Papier so, dass sie es um die Wunde wickeln und zwischen den anderen Zehen so verweben konnte, dass es hielt.
Sie sah auf die Uhr. In fünfzig Minuten würde es an der Tür klingeln.
Genug Zeit.
Der Esstisch war fertig gedeckt. Schlicht und massiv stand er als Prunkstück in der Mitte der Küche. Gebilde aus Draht und Vogelfedern steckten in den Astlöchern, die die dunkel gebeizte Tischplatte an zwei Stellen unterbrachen. Die Teller passten gewollt nicht zueinander. Nora hatte einen glatt weißen ausgewählt, einen weißen mit Rosenrelief und Goldrand, einen mit gemalten Ornamenten aus Sumpfdotterblumen und Gräsern und einen cremefarbenen mit Jagdszenen auf dem Rand, in denen Hunde und berittene Jäger einem Hirsch nachstellten. Auf gefalteten Servietten mit Weihnachtsmotiven lagen rechts neben den Tellern verschiedenen Besteckkästen entsprungene Messer und Gabeln. Die kleinen Löffel für den Nachtisch lagen oben drüber. Drei verzierte aus Silber. Einer schlicht und aus Edelstahl. Um den Tisch herum standen sechs Stühle, die einander ebenfalls nicht glichen. Im Kühlschrank stand Kartoffelsalat, angemacht mit Zwiebeln, Essig und Öl.
Nora hatte die Stühle nach den Wochentagen benannt und nahm ihr Frühstück jeweils auf dem namentlich passenden Stuhl ein. Sonntags saß sie auf keinem der Stühle, sondern mitten auf dem Tisch, wobei sie dann den Teller mit zwei gemachten Broten auf dem Schoß hielt. Das eine süß. Das andere scharf und herzhaft. Die Brote schnitt sie zuvor in Streifen, um Himmel und Hölle im Wechsel genießen zu können.
Wie jeder Besucher beim Betreten der Küche rasch erkennen konnte, liebte Nora Streifzüge über Flohmärkte, das Sammeln von ausgestopften Tieren und Abwechslung.
Ihre Anschaffungen zahlte sie vom Trinkgeld, dass sie hinter dem Tresen einer Kellerbar einstrich. Ihr Gehalt verbrauchte sie fürs Wohnen und Leben.
Nora suchte die braun gestrichenen Dielen mit den Augen ab. Der zweite Schluck aus der kurz zuvor geöffneten Saftflasche ließ ihre Zunge stumpf werden. Den ersten hatte sie vor dem Hammerschlag getrunken. Vanessa hatte ihr die klarsichtige Glasflasche vor zwei Tagen in die Hand gedrückt, als sie sich im Treppenhaus begegnet waren, und gemeint, es wäre ganz sicher genau das Richtige für sie.
Sie hätte einen neuen Laden entdeckt. Zwei Straßen weiter.
Ohne die asiatischen Schriftzeichen des Etiketts lesen oder verstehen zu können, hatte Nora die Flasche vorhin geöffnet. Jetzt sah sie sie genauer an. Hielt ihre Nase über die Öffnung.
Wonach schmeckte und roch das?
Sie kam auf keine Antwort, drehte den Verschluss wieder fest und stellte die Flasche neben den angewelkten Strauß Sommerblumen auf das Fensterbrett. Die Sonne brach sich in dem honigfarbenem Inhalt und verwandelte ihn im Bereich des Flaschenbodens in goldenes Licht.
Wieder suchte Nora den Küchenfußboden ab.
Wo war bloß der Hammer gelandet?
Nachdem sie sich ein Mal um sich selbst gedreht hatte, entdeckte sie ihn im Schatten des Wildschweinkopfes, der in der Nische zur Speisekammer hing. Entfernt vom Fenster. Umringt von zwei Auerhähnen, einem Dachs, einer Schleiereule und zwei Köpfen junger Rehböcke. Sie musste ihn reflexartig dorthin getreten haben, wie man einen Hund zur Seite tritt, der einem ans Bein pinkeln will.
Nora wedelte die Fliegen vom Fleisch und untersuchte es nach abgelegten Eiern. Vorsichtshalber spülte sie es unter fließendem Wasser ab. In der Küche stand die Hitze des Hochsommers, und Nora lief der Schweiß den Rücken entlang. Sie tupfte das Fleisch trocken. Erneut landete der Hammer auf rosa Gewebe. Noch einmal. Und noch einmal. Nichts geschah. Nora drehte die Fleischscheibe und schlug, bis sie glaubte, ein Loch zu sehen. Sie würzte mit Salz und Pfeffer. Wälzte in Mehl und Ei. Dann in Semmelbrösel. Sie legte das Ergebnis auf den Teller mit dem kobaltblauen Zwiebelmuster, der zwischen ihr und dem Ceranfeld stand. Dann hob sie den Deckel von der Kunststoffdose und nahm die nächste Scheibe heraus. Zwei aufdringliche Fliegen schwirrten um ihren Kopf. Setzten sich abwechselnd auf Schläfen und Stirn, von wo aus Nora mit Kopfschütteln versuchte sie zu vertreiben. Sie landeten auf dem Schnitzelteller. Nora fluchte, verscheuchte sie abermals und öffnete das Fenster einen Spalt, in der Hoffnung, die Quälgeister würden ins Freie fliehen, bevor Nora sie erschlug. Dann nahm sie die Saftflasche aus der Sonne, trank einen Schluck und stellte sie in den Kühlschrank. Diesmal wurde die Zunge nicht stumpf. Die Geschmacksrichtung blieb immer noch ein Rätsel. Sie vermutete der Reihe nach.
Litschi? Apfel? Ingwer?
Und irgendetwas aus der Richtung, das möglicherweise Ekel in ihr hervorrufen würde. Sie hasste zum Beispiel Lakritz.
Als sie vor gut zwei Wochen mit Vanessa im Aufzug stecken geblieben war und hektisch auf allen Knöpfen herum drückte, bot die ihr zur Beruhigung Lakritzschnecken an. Zu dem Zeitpunkt waren sie einander noch fremd. Daraus entwickelten sie ein Frage-und-Antwort-Spiel, mit dem sie die Zeit bis zur Rettung vertrieben. So erfuhren sie von einander, was sie hassten oder liebten. So war es zur heutigen Einladung gekommen. Und damit sich ihr Aufwand in der Küche lohnen würde, hatte Nora die beiden Typen von der Security eingeladen, die an den Wochenenden mit ihr zusammen Schicht hatten und Brüder waren.
Der Hammer fiel. Wieder ein Schrei. Schlimmer und wilder, als Nora je einen zu Ohren bekommen hatte. Langgezogene miteinander verflochtene Töne aus Angst und Schmerz. Diesmal hielt sie den Hammer fest umschlossen. Riss aber vor Schreck den Arm so ungeschickt zurück, dass sie sich selbst damit vor die Stirn schlug und benommen nach hinten taumelte. Sie stieß mit der Hüfte gegen den Esstisch. Die Teller klapperten, und ein stechender Schmerz durchfuhr sie.
Nora schrie: Was ist das für eine fucking Scheiße!?
Sie schleuderte den Hammer gegen die Speisekammertür, von wo aus er zurückprallte und mit dem Kopf voran ihr Schienbein traf.
Ein verzweifelt kehliger Ausruf: Waaaaas!!
Weiße Lackfarbe blätterte von der Tür und ließ das alte Rostbraun durchscheinen. Nora kämpfte mit den Tränen und rieb sich das Bein. Rieb sich die Hüfte, die ganz sicher blau werden würde. Sie hob das T-Shirt hoch und sah zu, wie sich um ein tiefrotes Zentrum ein Bluterguss bildete. Sah, wie nach und nach die weiße Kante, die der Tisch hinterlassen hatte, sich in lila verwandelnd verschwand. Sie wischte sich über die Augen. Ein Blick zur Uhr. Noch vierzig Minuten. Nora betastete vorsichtig die Stirn. Sie lief panisch ins Badezimmer, als sie danach Blut an den Fingern hatte.
Wie ein Stempel prangte das Muster des Fleischklopfers unterhalb des Haaransatzes. Ihr Sparponny würde die hinterlassene Maserung nicht verdecken. Ungefähr die Hälfte der winzigen Eisenpyramiden hatten die oberen Hautschichten so verletzt, dass Blut austrat. An einer Stelle schienen sie regelrecht aufgeplatzt, und Nora fragte sich, ob die Stelle genäht werden müsste. Sie faltete zum dritten Mal einen Meterabriss vom Toilettenpapier und presste ihn gegen die Stirn. Erst jetzt, als ihr mehr und mehr die Abfolge ihrer Verletzungen bewusst wurde, bemerkte sie, was sich in ihrem Inneren tat.
Jetzt auch noch Schädelspringen…
Hektisch kramte sie aus dem Spiegelschrank eine Ibuprofen. Sie legte das längliche Teil auf die Zunge, nahm einen Schluck Wasser aus der hohlen Hand und spürte kurz darauf einen Druck in der Speiseröhre, der ihr verriet, dass die Ibu mehr schleppend in der Speiseröhre fest hing als dass sie hinab glitt. Dann wurde ihr schwindlig und schlecht, und sie übergab sich ins Waschbecken. Zwischen der halb verdauten Masse aus Mischbrot, Mortadella und Erdbeerkonfitüre steckte die weiße Tablette, die so groß war, wie das obere Gelenk ihres kleinen Fingers. Nora fischte sie heraus, spülte sie unter laufendem Wasser ab, schluckte sie erneut und säuberte das hellblaue Keramikbecken aus den Siebzigern. Anschließend putzte sie Zähne und Zunge, und überlegte, womit sie die Stirn verbinden und abdecken könnte.
Noch dreißig Minuten. Zum Absagen zu spät. Die zwei kommen aus Brandenburg.
Nora wiederholte das Spiel: Den Hammer aufheben. Mögliche Fliegeneier abspülen. Fleisch trocken tupfen. Würzen.
Nein, das Würzen war verfrüht. Egal.
Sie hob den Arm. Merkte, wie die Hand zu zittern begann und wie sich unter dem Seidentuch, das sie über einem Druckverband in Stirnhöhe um den Kopf gewickelt hatte, was ihrer modischen Neigung zu den Siebzigern entsprach und nicht weiter auffallen würde, Schweißtropfen bildeten und die Haut zum Brennen brachten. Sie verspürte immer noch leichte Übelkeit. Die Fliegen waren nicht verschwunden. Im Gegenteil kam es ihr so vor, als würden es immer mehr. Sie wedelte mit der freien Hand.
Noch zwanzig Minuten. Acht Minuten brauchte sie zum Braten der Wiener Schnitzel. Innen schön rosig.
Sie würde Vanessa schon davon überzeugen, wie hervorragend gut zubereitetes „totes Tier“ schmecken konnte. So hatte sie es genannt. Vanessa, die seit fünfzehn Jahren keins mehr aß. Aus Prinzip, hatte sie gesagt. Im Fahrstuhl. Hatte von Leichen gesprochen. Überall läge doch Leichenfleisch in den Regalen der Supermärkte. Und all die Qualen dahinter. Tierkinder. Tiermütter. Mit Käse und Milch wäre es dasselbe. Sie bräuchte sich nur mal die Videos dazu anzusehen. Alles für die Maßlosigkeit der Menschen …
Nora schlug zu. Der Hammer fiel zu Boden. Neben die Füße. Sie stand wie versteinert. Presste die Hände auf die Ohren, denn diesmal verebbte der Schrei nicht. Wuchs zu einem Kanon an. Echote von den Wänden. Es klang, als stimmte ihre Tiersammlung mit ein. Das Wildschwein wand sich. Brüllte. Die Hauer drohend zu Nora gerichtet. Die Auerhähne hackten in die Augen des anderen. Die Eule flatterte und kreischte, das Gesicht zur Fratze verzogen. Die Rehe rissen stumm ihre Mäuler auf. Dann begann sich der Boden zu drehen. Aus der Scheibe Kalbfleisch trat Blut. Langsam und rhythmisch quoll es heraus. Quoll über den Rand. Lief auf das Holzbrett. Hörte nicht auf. Es füllte die Rinne zum Sammeln von Flüssigkeiten. Bis zum Überlaufen. Und verwandelte die Arbeitsplatte aus weißem Marmor in einen rotbraunen See. Die Luft roch nach Eisen. Nach Stall. Nach Dung. Nora spürte, wie ihre Brüste zu ziehen begannen, als würde Milch einschießen, wie vor einem Jahr, als sie ungewollt schwanger war. Die Schreie ebbten nicht ab. Ein Vielfaches des zuerst ertönten kam und ging Sirenengleich. In einem Schwall übergab sie sich auf den Esstisch. Zitternd klammerte sie sich an zwei Stühle. Sie sah dem Erbrochenen zu, das sich zwischen Geschirr und Dekoration seinen Weg bahnte, als wäre es lebendig. In einer Suppe aus Blut und Halbverdautem zitterten Rüssel und Ohren von Schweinen. Die Ränder ausgefranst und blutig. Kleine und große Herzen pumpten. Augäpfel rollten. Groß wie die einer Kuh. Und Kükenklein. Und zwischen allem saßen die Fliegen und setzten ihre Eier ab, aus denen im nächsten Augenblick Maden krochen und sich windend und wimmelnd zum Festschmaus fanden. Auf einmal humpelten Fetzen zerschredderter Küken, als wollten sie der Armee von Maden entgehen, gegen die Bierkrüge, die Nora zu jeden Platz gestellt hatte. Aus Zinn. Aus Porzellan. Aus Glas.
Glas! Noch zehn Minuten. Die Flasche von Vanessa! Der Ekel darin…
Nora wankte zum Kühlschrank.
Kaum war der Schluck durch ihre Kehle geronnen, verstarben die Schreie. Sie drehte sich langsam um. Der Esstisch. Alles auf ihm stand oder lag unberührt an seinem Platz, und der Marmor der Arbeitsplatte glänzte in strahlendem Weiß. Das Fleisch lag auf dem hellen Holzbrett. Zur Hälfte durch den Schlag geplättet. Zart rosa und stumm. Wieder das stumpfe Gefühl auf der Zunge. Fliegen auf der Fensterscheibe. Die Luft roch nach Sommer. Die Schmerztablette begann zu wirken.
Reiß dich zusammen!
Nora stellte die Pfanne auf den Herd, goss Öl hinein und bereitete das restliche Fleisch vor. Sie stellte den Salat auf den Tisch. An jeden Platz ein gekühltes Bier. Die Wiener Schnitzel waren fertig. Ihre Knie zitterten. Es klingelte.
Vanessa war nicht erschienen. Magenverstimmung. Das Essen wurde trotzdem alle. Die Brüder verschlangen sowohl Vanessas komplette wie auch Noras angefangene Portion.
Wieso sie nichts essen wolle?
Auch Magenverstimmung. Sie hätte am Abend zuvor zu tief ins Glas geschaut.
Dass sie rein gar nichts schmeckte, verriet sie nicht.
Dass sie nie wieder etwas schmecken würde, erfuhr sie ein paar Tage später, es sei denn, sie nähme einen Schluck von dem Getränk. Was dann passiere, hätte sie ja schon gemerkt, mutmaßte Vanessa, die mitbekommen hatte, wie angeschlagen Nora wirkte.
Sie hatten sich wieder im Fahrstuhl getroffen und standen nun vor Noras Tür.
Du hast davon getrunken, richtig?
In Noras Stimme klang etwas Bedrohliches.
Was war da drin?
Vanessa blieb unbeeindruckt.
Der Saft ist für Fleischesser im Ergebnis das, was ein Nikotinpflaster für Raucher darstellt.
Nora verstand zuerst nicht.
Ganz einfach. Es hilft dabei, dir das Fleischessen abzugewöhnen. Schmeckst du etwas, hörst du das Leben und Leiden der Tiere, wenn du mit ihrem toten Fleisch in Berührung kommst. Funktioniert auch im Supermarkt hervorragend. Du musst nur mal eine Wurstpackung mit dem Finger berühren. Oder eine Schachtel Eier. Oder Käse. Praktisch alles, wofür der Mensch Tiere ausbeutet und missbraucht. Total genial!
Vanessa klang euphorisch.
Nach mehrmaliger Nutzung macht es super gruselige Halluzinationen. Die sollen echt krass sein.
Sie sah Nora mitleidig an, die ihren Worten – teils ungläubig, teils verzweifelt – folgte.
Das ist doch Bullshit!
Im Gegenteil, Vanessa lachte, wenn du das abstellen willst, musst du nur wieder einen Schluck von dem Gebräu trinken. Ich kann dir gern Nachschub besorgen. Beim jeweils zweiten Schluck wird allerdings der Geschmackssinn komplett lahm gelegt, und du kannst im Grunde deine Schuhsohlen lutschen. Apropos, Lederschuhe und so … naja, wirst du beim Laufen selber merken. Sie sah auf Noras nackte Füße und musterte die bläulich verfärbten Zehen.
Tut’s denn sehr weh?
In Nora spannte sich plötzlich ein Seil. Bis zum Bersten. Es schmeckte metallisch. Es spannte sich ohrenbetäubend. Und es riss. Doch sie ließ sich nichts anmerken. Zuckersüß fragte sie zurück: Magst du noch auf einen Kaffee mit reinkommen?
Nora hatte die Küche geringfügig verändert. Der große war von einem kleineren Tisch ersetzt worden. Somit war mehr Platz für die Kühltruhe, die sie günstig ersteigert hatte, nachdem sie unter anderem ihre Vorliebe für gefrorenes Gemüse entdeckt hatte. Davon abgesehen, wollte sie ohnehin nie mehr als drei Gäste auf einmal bekochen. Donnerstag und Freitag standen jetzt unter dem Wildschweinkopf, und Nora tauschte sie jeweils zum Ende der Woche entsprechend aus.
Von den Vorkommnissen war sie weitestgehend erholt.
Die Sommerferien hatten begonnen, und mit ihnen wurden im Kiez WG-Zimmer und Wohnungen von den einen neu vergeben und von anderen händeringend gesucht. Umzugswagen hatten Hochkonjunktur. Bars und Kneipen lockten zukünftige Stammkunden mit ganztägiger Happy Hour.
Auch in ihr Haus war eine Neue gezogen. Sie hatte sie vor ein paar Tagen im Fahrstuhl kennen gelernt, als dieser wieder für ein paar Stunden streikte. Diesmal war es an Nora gewesen, zu beruhigen, und sie hatte Bonbons angeboten. Daraufhin hatte die Neue sich vorgestellt.
Sie hieße Judith, käme aus der Nähe von Hamburg und sei seit kurzem Veganerin. In Berlin könne man das ja gut. Manchmal vermisse sie allerdings den Geschmack von Fleisch. Aber ihr täten die Tiere voll leid. Da gäbe es diesen Film, und seit sie den gesehen hätte …
Nora verstand, und schwärmte ihrerseits, dass sie einen wunderbaren Ersatz für Wiener Schnitzel zubereiten könne. Mit Trick Siebzehn und Rote-Bete-Saft sogar innen zart rosa, und mittlerweile bekäme sie auch ohne Hühnerei eine super Panade hin. Da sei kein Unterschied festzustellen. Wenn Judith also der Heißhunger packen würde … das sei ganz sicher genau das Richtige für sie.
Noch zwanzig Minuten.
Der Hammer lag gut in ihrer Hand. Nora hatte sich für ein Stück vom Bauch entschieden. Sie hatte Gewürze und Kräuter im Halbkreis um den Kartoffelsalat gestellt. Daneben Essig und Öl in klarsichtigen Flaschen. Auf dem Fensterbrett fing ein Strauß frischer Margeriten das Sonnenlicht ein, und der Fliegenfänger darüber bewegte sich dekorativ im Luftzug, wie ein mit Korinten beklebtes Papierkunstwerk. In einer der Nachbarwohnungen spielte jemand Klavier und sang dazu. Sie lauschte lächelnd. Es war ihr letztes freies Wochenende in der Hauptsaison. Als ihr Blick auf die Kühltruhe fiel, funkelten ihre Augen. Die Mehrausgaben musste sie schnellstens wieder reinholen. Später einen Plan entwickeln, wie sie für Nachschub sorgen kann. Fast zärtlich strich sie mit zwei Fingern über die zukünftigen Schnitzel. Dann schlug sie mit Bedacht die Fasern von Vanessas Muskelfleisch weich.
Wie gut, dass dieses blöde Gesöff bei dir nicht wirkt. Ich werde dich schmecken, und meine Welt wird dazu schweigen …
Auf dem kleinen Bücherregal glommen Räucherstäbchen. Der Teller mit dem Zwiebelmuster und die Pfanne standen neben dem Herd bereit. Dazu eine Wasser-Mehl-Mischung als Klebstoff und die Panade aus Semmelbrösel und Mandelsplittern.
Alles, wie immer.
Nora zerkaute die Reste eines Pfefferminzbonbons und freute sich auf das Essen mit Judith.
© Jo Lenz 2018