Weil ich es will, passt die Welt auf meine Hand. Ich bin riesengroß. Kann groß sein, wie ich mag.
Dafür nähte ich aus allen Hosen, die jemals genäht worden sind, eine Hose für mich. Und ich nähte mir aus allen Hemden ein Hemd. Und ich strickte aus allen … strickte ich mir Riesensocken. Dann hing ich mir die Welt an ihrem dünnen Faden um den Hals. Fest stand, ich wollte nie mehr frieren, und dafür brauchte ich einen anderen Ort.
Es war leer, als ich ankam. Ein unvorstellbar riesiges Nichts um mich herum, und darum … aus allen Farbtöpfen, die jemals gefüllt worden sind … ich hatte alle Farben und fing an: Warf die Töpfe in die Luft. Blau landete. Wasserplätschern. Grün. Wiesen und Bäume. Rotbraune und goldene Erde. Sonnengelb.
Berge gibt es keine, denn ich würde es nicht hinauf schaffen, weil ich mich hierher mitnehmen musste, wie ich war. Also bin ich erschöpft. Also suche ich mir einen Platz und warte ab, was passiert – sitze da, wie das Schlaflos vor seiner Tür, das unruhig auf schlechten Träumen herumrutscht und mit geschlossenen Augen in die Nacht lauscht. Irgendwo klingelt ein Windspiel, dessen Melodie es kennt: Einmal Wind sein und um die Häuser musizieren … mit dem Leben ist es nämlich so, solange einer lebt, braust es einem um die Ohren, wie der … Wind weht mir ins Gesicht. Weht über das Grün um mich hinweg und lässt es Flüstern. Verändert die Landschaft. Die Umrisse wehren sich gegen ihre Form. Was der Zufall will. Mutters Geruch in meinem Zimmer. Vaters Abwesenheit. Großmutter. Rasch lege ich die Welt in einer Kuhle ab. Viel zu schwer auf einmal.
Ich streichle das Gras … Wiesenhandküsse leuchten Glühwürmchen in meinen Bauch. Mein Herz sitzt an Großmutters Kachelofen. Ich höre ihre Klaviermusik und summe leise mit. Ihre Finger fliegen immer wieder über dieselbe Melodie. Teufelszeug, faucht Mutter. Großmutter blinzelt mir zu. Vater schweigt und starrt auf die Tischplatte.
Ich rette mich ins Sonnengelb aus einem der Töpfe und blinzle hinauf. Ein Spielmannszug aus Schmetterlingen wirbelt herum. Gelb duftet, wenn Strahlen Haut berühren. Ich sehe an mir entlang. Betrachte meine Beine. Sind so dünn, dass sie mich kaum tragen. Sind weiß, wie erschrockene Eier.
Öffnest du die Klappe behutsam, sitzt die Glucke manchmal noch auf ihnen. Flattert erst gackernd davon, wenn du die Hand zum Nest hinstreckst. Schneeweiß. Ich spüre, wie ihre frisch gelegten Eier meine Hände wärmen und höre noch das aufgeregte Geschnatter der Gänse, weil ich auf den Kirschbaum geklettert bin.
Wie gern würde ich jetzt klettern können.
Vater schläft seinen Rausch aus. Seine Stimme ist immer zu leise. Die Fensterläden knarren, als Mutter sie schließt. Großmutter spielt nicht mehr für mich. Ich muss bei Tag ins Bett, höre, wie Mutter mir im Dunkeln etwas zuflüstert, was die Kirchenglocken, die eben noch die Mittagsstunde hinauf trugen, mit ins Tal zurück nehmen.
Hätte ich einen Hügel, könnte ich wenigstens hinunterrollen. Bis zum Strand, wo Wellen das Ufer streicheln. Ich lasse meine Hände auf den Wangen liegen. Tränen sind heiß, und die Glühwürmchen fliehen ins Nichts.
Gold gestickte Bilder auf dem Kopfkissen. Ersticktes Geläute. Dumpfer Kirchengruß. Frost schlägt von innen zu. Tagelang war kein Feuer im Ofen. Das Klavier hat Mutter längst verheizt. Frost schlägt von innen … es drückte und biss mir die Luft weg, als sie es erzählte. Dann stahl sie mein Toben. Band es ans Bettgestell. Ich summte mich in den Schlaf.
Es sind nur Geschichten. Geflüster. Glasscherben, die vom Himmel regnen und nach Rausch riechen. Lachend schwimme ich auf Tränen aus der Welt, und schere mich nicht darum, dass ich mir selber auf allen Vieren hinterher krieche. Mutter betet. Großmutter schaukelt vor und zurück. Vater liegt am Boden. Dann verschwimmen die Farben. Licht aus.
Mit dem Dunkel kommt die Kälte, und mit ihr fängt das Leben an. Kälte ist eine gemeine Strafe. Zerklirrende Schnapsflaschen. Kalt, wie eine ganze Nacht. Nass im Bett. Ohne Decke. Ich soll lernen, mich rechtzeitig zu melden. Riesensauerei! Ein Klotz verhindert, dass ich das Fenster schließe. Und der Schlüssel … dass ich das Zimmer verlasse. Später fallen ihr die Stricke ein.
Ich schieße mit letzter Kraft die Welt aus der Kuhle und sehe ihr beim Fliegen zu. Hätte ich an Felsen gedacht, könnte sie daran zerschellen und dann ihren Kopf blutig hängen lassen, so, wie kleine Hunde, wenn sie an die Hauswand klatschen. Ich will nie mehr frieren.
Ich soll genau hinsehen. Vater legt mir einen Welpen auf die Hand. Hier, wirf selber – Mutter will das so! Er flüstert. Ich kann nicht, sage ich, und sie schickt mich ins Zimmer. Zwingt mich ins Bett. Nimmt meine Sachen mit hinaus. Auch das Deckbett.
Später buddle ich alle ein. Buddle mir die Hände blutig. Blutig, wie die Ente, die ich anschließend mit dem Stock erschlage.
Drück mir doch das Kissen aufs Gesicht, damit ich nicht schreien kann – ich vergesse das Beten nicht, Mutter! Ich vergesse deine Hände nicht. Lange dünne Finger, wenn Vater schnarcht. Ich vergesse die Stricke nicht. Und dein Gesicht bei Nacht. Ich soll immer hinsehen. Deine schrumplige Haut berühren.
Mir soll nichts passieren, sagst du, und nimmst wieder den Schlüssel mit. Der Dietrich liegt längst unter meinem Kopfkissen. Vater hat ihn mir zugesteckt.
Ich höre, wie die Tiere verstummen. Großmutter liegt am Boden vom Hühnerstall. Als sie aufhörte zu schaukeln, hast du den Strick durchtrennt, dafür meine vergessen. Musstest die Dielen schrubben, da wo Vater lag. Er wacht nicht mehr auf. Der Schaum aus seinem Mund hat dich angeekelt. Heimlich stehe ich am Fenster und sehe dir zu, wie du Großmutter in die Futterküche schleifst. Sie hätte gar nicht so hoch klettern können. Gold erstickt Geschichten, sagst du, Musik ist Teufelszeug, Vater ein Sünder. Und du hast eine schreckliche Fratze!
Ich habe verloren. Die Welt flog mit meinem Schuss zu weit weg. Jetzt liege ich, bin festgewachsen im Nichts aus Farben und sehe dem Wasser zu, wie es sich von mir entfernt. Tonlos trommeln meine Finger im Gras. Wie gern hätte ich Tiere hier. Kaninchen. Jede Menge. Welche, denen keiner das Fell abzieht. Und Hunde. Solche, die keiner gegen Mauern … Katzen auch … ich sollte immer hinsehen.
Mach die Augen auf! MACH … die Augen auf!
Die Stimme vertreibt Bilder. Mutters Gesicht verblasst. Sonnengelb. Blau plätschert. Vaters Schweigen. Großmutter. Grün läuft aus umgekippten Farbtöpfen. Ein Haufen Metall, der kunterbunt wackelt, heller und heller wird. Ein letztes Mal bäumt sich der Wind auf und summt zum Klavier, dann fordert mich die Stimme erneut auf, öffne deine Augen!
Ich blinzle in scharfkantiges Weiß. Es ist wärmer hier, als in dem Zimmer auf Großmutters Hof. Es gibt kein Fenster, durch welches Kälte hereinfällt.
Die Kälte kommt allein mit den Stimmen der Menschen, wenn ich mit dem Kopf gegen die Wand schlage oder meine Arme bluten. Bin ich ruhig, lassen sie mich gehen. Von diesem Zimmer in ein anderes mit Fenster … und Gittern davor. Mir soll nichts passieren. Ich kann in ihren Augen lesen, dass sie die Bilder von Mutters Fratze kennen und mich fürchten. Rot, wie blutender Mohn, war ihr Gesicht. Rot, wie die Haut auf meinen Armen. Mit dem selben Messer hat Vater Kaninchen gehäutet. Ich musste immer hinsehen. Man muss es machen, so lange sie warm sind, hat er erklärt.
Klirrendes Glas bei Nacht. Sie hat seine Flaschen zerschlagen. Manche auf seinem Kopf, als er vor Schmerz gekrümmt am Boden lag … ich habe gewartet, bis sie mit dem Beten anfing. Vergib! Vergib! Ihren Kaffee trank sie wie immer kalt, dann fing sie an, sich wie eine vergiftete Ratte zu winden. Zu gurgeln. Entsetzliches Röcheln. Ich habe zugesehen, sah ihre Augen, als sie vom Stuhl rutschte. In dem Moment trugen die Glocken den Abend zu uns hinauf, und ich konnte ihre Fratze nicht länger ertragen. Später lagen sie zu dritt in der Futterküche. Verstummt, wie die Tiere. Mit sprechenden Augen. Als wollten sie heraus rollen … Angst frisst das Licht in einem.
Wie geht es dir heute? Wirst du etwas essen?
Scharfkantiges Weiß, wie ein Bilderrahmen. Das Gesicht über mir ist neu. Der Blick warm. Eine Neue, die nichts weiß von der Welt, mit einer Stimme wie Honig. Sie streicht mir Haare aus der Stirn. Ihre Hand ist warm und riecht nach Zimt. Sie löst meine Arme und Beine. Ich betrachte sie, wundere mich über das Lächeln in ihrem Gesicht und sehne mich auf einmal nach den Gitterstäben nebenan. Ich will ruhig sein. Meine Arme in Frieden lassen. Die Verbände nicht anrühren. Ich schlucke artig, was sie mir mit dem Löffel in den Mund schiebt. Drei Mal. Sie sagt, dass ich das gut mache. Meine Beine sind zu dünn für Berge. Sie wird mich später abholen, sagt sie, und ich schließe meine Augen. Großmutters Klaviermusik trägt mich zurück. Ich summe mit, und weil ich es will, passt die Welt auf meine Hand.