Eva und nichts


Erzähl mir deine Geschichte. Lass die Zahlen auf dem Stein nicht alles sein. Klein warst du. Viel zu klein, um in Granit gemeißelt zu werden. Und doch bist du älter, so viel älter als ich. Findest du das ungerecht? Ich sitze hier und meine Augen folgen den Efeuranken. Mochtest du Efeu? Ich immer. Ich sitze hier, während du, was auch immer von dir blieb, unter mir liegst. So viel ist geschehen, während du schliefst. Zwei ganze Leben. Mindestens. Eva. Steht da. Eva und nichts. Sie wussten nur deinen Vornamen. Oder haben sich einen für dich ausgedacht. Eva. Wer warst du? Lass die Zahlen auf dem Stein … er ist hübsch. Ich mag das geäderte Grau an ihm. Flüsse. Seitenarme. Bäche. Dazwischen Sumpfgebiet. Weißt du, was Sumpf ist? Man versinkt darin. Wird begraben. Später gut erhalten gefunden und ins Museum gesteckt. Da starren einen alle an. Gut erhalten, wie man ist. Findest du das okay? Würdest du wollen, dass dich alle anstarren und sich darüber freuen, dass du im Tod gut erhalten bist? Entschuldige. Bitte. Bestimmt hast du andere Sorgen. Hast du Sorgen? Hat man Sorgen, wenn man unter einem Granitstein liegt? Ich habe welche. Ja. Eine. Eigentlich nur eine. Ich lebe. Das ist alles. Sie packen dann Gegenstände dazu. Scherben von Krügen. Waffenteile. Kleider … wenn ich heute stürbe. Wie ich bin. Was würden sie dazu legen? Vielleicht meine Krücken? Weißt du, der Weg hier hoch war echt nicht leicht. Ich habe zwar Gummipfropfen unter den Dingern, aber der Waldboden. Wurzeln. Kuhlen. Sandlöcher. Willst du wissen, wieso ich erst heute bei dir angehalten habe? Ich hatte Angst. Bin bisher nur um dich herum geschlichen. Wollte anhalten, glaub mir. Aber es ist leichter zu lesen, von wem und dass jemand vermisst wird, als auf den ersten Blick zu erfassen, dass da nur eine Name und ein viel zu kurzes Leben stehen. Nicht mehr als das. Eva. Und Zahlen, die alles beschreiben, was von dir bleiben soll. Vielleicht fragst du dich, wieso ich hier bin. Kann ich dir sagen. Ist ruhig hier. Keiner schreit mich an. Keiner von außen. Es schreit dann nur in mir drin. Es schreit. Kennst du das? Wenn alles in dir schreit? Aber diese Ruhe hier oben. Zwischen euch. Die kann Schreie töten. Mit der Zeit lösen sich die Schreie in Fragen auf. Fragen, wie du gestorben bist. Wie alle hier. Bei manchen erzählen es die Steine. Viel zu schnell. Unerwartet. Nach schwerer Zeit. Wie schwer wiegt Zeit überhaupt? Und wie schwer ist der Tod? Ich habe mal geträumt, dass er ein Dorf in den Bergen ist. Die Sonne schien himmelblau über mir und lachte. Lockte mich lachend zu sich. Zwischen Gipfel und winzige Häuser. Und ich wollte zu ihr. Dachte, dann täte nie mehr etwas weh. Dachte, der Tod wäre Erlösung vom Leben. Kein Schreien mehr. Kein Brüllen. Kein Schmerz. Beine, die mich von alleine tragen, mit denen ich von einem Tal ins andere laufe. Aber das ist Bullshit. Bestimmt ist es das. War nur ein Traum. Hast du geträumt? Träumst du noch? Ist der Tod vielleicht ein grenzenloser Traum? Ein Niemehraufwachen aus Gedanken, auf denen man reiten und fliegen kann in einer Welt aus Marzipan. Geht es dir vielleicht viel besser als mir? Bestimmt geht es das. Du musst nicht in mein Haus, wenn die Sonne untergeht. Du musst nicht durch meine Straße, wenn sie scheint. Musst nicht den Mond anflehen, dass er deine Nacht bewacht und niemanden in dein Zimmer lässt. Dabei könnte die Nacht friedlich sein, wie ein Grab. Oder so friedlich, wie die alte Brinkmann am Ende der Straße, da wo der Wald anfängt. Sie winkt mir vom Fenster aus zu, wenn sie mich sieht. Fragt mich manchmal, ob ich Zigaretten für sie kaufen gehe. Ihr Gesicht sieht aus, wie Grabsteinhaut. Voller Flüsse. Seitenarme. Bäche. Nur viel heller. Nicht ganz so grau. Dafür leuchten ihre Haare, wie gelockte Zuckerwatte. Und ihr Atem riecht nach Pfefferminzlikör. Und sie droht jedem mit dem Stock, der mir nachstellt. Einmal traf ein Stein ihr Fenster. Sah dann aus, wie die Spinnennetze in dem Efeu hier. Und die aus der Bande rannten davon. Lachten und beschimpften sie. Alte Schnapsdrossel. Hast du Angst vor Spinnen? Ich mag, wenn der Tau in den Netzen hängt und die Sonne daraus kleine Diamanten küsst. Ja, ist, als küsste die Sonne an den Netzfäden entlang. Kitzelt den Spinnen die Füße. Kann sie bestimmt. Raffa kann auch küssen. Aber es ist eklig. Er hat seine Zunge in meinen Mund gesteckt. Und dann sein ekliges Ding … Ich musste mich auf den Steg legen. Unten am See. Den Schlüpfer … und dann das Kleid … und das Schilf um uns bog sich im Wind und das Entenpaar flatterte auf. Und Raffas Augen waren wild und dunkel, bis sie sich schlossen. Dir geht es bestimmt wirklich besser als mir. Das Kleid war mit Blut beschmiert, und ich musste auf dem Heimweg ein paar Mal hinfallen, damit ich mit dem Blut an Knien und Ellbogen Mutter erklären konnte … seit dem habe ich die Gummipfropfen unter den Krücken … und Raffa fütterte die Kaninchen, als ob nichts war. Und wehe, du sagst etwas! Beim Abendbrot fing ich dann das Schweigen an. Schweigen für immer. Und wehe, du sagst etwas! Nur in seinen Augen. Mutter plapperte und gluckste, als Vater ihr auf den Hintern schlug. Dann mich ansah. Die wilden Augen hat Raffa von ihm. Ich gluckste nie. Ich schwieg. Nachts im Zimmer. Genauso wie am See. Mutter schwieg mit mir. Aber jetzt. Sieh mich an! Das Dorf schweigt nicht mehr. Redet über uns. Mutter ist gegangen. Und es schreit in mir. Und ich will Eva sein und mit dir tauschen. Ich buddle dich aus und schenke dir meine Krücken. Schenke dir Raffa und den Vater. Und die alte Brinkmann. Und du wirst lernen, wie man Zigaretten kauft, und du wirst lernen, ein Krüppel zu sein und du wirst lernen, nichts zu sagen. Und ich schenke dir meinen Bauch und das Leben darin … und dann will ich deine Geschichte, und dass die Zahlen auf dem Grabstein alles sind, was mir passiert ist.

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