das ende


Schritte nähern sich. Der Schlüssel dreht sich zweimal im Schloss, und ich presse mich so nah an die Wand, wie ich kann. Jemand tritt ein. Dann fällt die Haustür mit einem leisen Klacken zu. Auf Zehenspitzen erreicht die junge Frau die Treppe. Nah am Geländer hält sie sich für einen kurzen Augenblick direkt über mir. Sie vermeidet jegliches Geräusch. Kein Knarren. Kein Klappern. Wenn es meinen Herzschlag noch gäbe, wäre er das einzige, was ihr aus dem Dunkel rhythmisch die Untermalung ihrer letzten Nacht schenkte. Die meisten ahnen nichts vom Ablaufen ihrer Uhr und vergeuden ihre Zeit, als wäre sie unendlich. Wie eine Katze bewegt sie sich die Treppe hinauf. Meine Blicke folgen ihr. Nach einer Weile schließt sich hinter ihr die nächste Tür.

Ich warte, bis das Haus schläft. Dann suche ich, wie sie, die Nähe des Geländers. Dort geben die Stufen dem Druck meiner Schritte nicht nach. Ich schleiche mich nach oben, denn ich soll niemandes Schlaf stören. So hat man es mir beigebracht. Der Tod auf Latschen bleibt unbemerkt.
Ihre Tür finde ich im dritten Stock. Rechts. Es ist die mit dem bunten Kneteschild. Darauf steht, wer alles lebt und liebt und streitet hinter dieser Tür. Etwas entsetzt stelle ich fest, dass sie Kinder hat und frage mich, wieso mir das verschwiegen wurde. Ich strecke mich durch, nein, das wird nichts an meinem Einsatzwillen ändern, dann konzentriere ich mich und durchschreite die Facetten aus Eichenholz. Fabelhaft, das ist mir diesmal auf Anhieb geglückt. Physikalisch begreife ich das Durchwändegehen immer noch nicht, aber ich beherrsche endlich die Technik

Da stehe ich also im Flur und zähle fünf Türen, die alle gleich aussehen. Die sechste, direkt neben mir, fehlt. Stattdessen hängen bunte Plastikbänder zwischen den Zargen. Ich lege meine Hand dazwischen und spähe hindurch. Der rote Bosch brummt leise. Auch ich hatte zu Lebzeiten auf die Küchentür verzichtet. Bestimmt steht sie in einem der Verschläge unterm Haus. Die Heizungsrohre rauschen. Es riecht nach Essen. Die Töpfe auf dem Herd verraten mir, dass die Kinder morgen trotz des Verlustes ihrer Mutter versorgt sein werden. Auf eine Art beruhigt mich das. Die Sache mit dem Abgebrühtsein gelingt mir bisher nur bedingt

***

Das Messer hatte gesessen. Meine Stunden waren gezählt und das andere Ufer schaukelte mir mit dem schwindenden Leben entgegen. Wie durch einen Eispflock verteilte sich Kälte in mir. Rammte mich am Boden fest. Während ich das dreckige Lachen meines Mörders immer leiser vernahm, lief ich schweigend ins Nichts. Ich hatte es nicht anders verdient. Ich würde annehmen, was käme. Licht oder Dunkelheit. Doch ich ahnte nicht, was ich da so lapidar heraufbeschwor. Von wegen, endlich Licht am Ende des Tunnels.

Gleich, nachdem ich das Ufer betrat, ja, richtig, ein Ufer, denn am Ende des Tunnels, der sich als stinknormales Abwasserrohr entpuppte, stakste ich durch miefige Brühe, die mich endgültig vom Irdischen rein waschen sollte. Jedenfalls kam ich mit nassen Füßen im Drüben an und wurde sofort von meinen ärgsten Feinden begrüßt. Kaum hatte ich mich mit dem Gedanken auseinandergesetzt, dass nasse Füße in Anbetracht der düsteren Kulisse nicht mein schlimmstes Problem sein würden, lauerte Mathilda mir auf. Während ich mir noch die Lebensabschiedsbrühe von den 2000-Dollar-Schuhen schüttelte und meinen Augen nicht trauen wollte, stand sie mir stinkend und mit kahlem Schädel gegenüber. Personifizierte Wut. Ihre Augen lagen in dunklen Höhlen. Was von ihren Händen übrig war, stemmte sie in ihre nicht vorhandenen Hüften. Ihre Beine endeten an schwarzen barfüßigen Stumpen. Operationsnarben saßen ihr wie fette Raupen auf der Schädeldecke, an der Kehle sowie auf den Stellen, an denen einst ihre üppigen Brüste wackelten. Über den Resten trug sie würdevoll ihr Grabkleid. Obwohl ich zehn Jahre zuvor gedacht hatte, als sie abwesend lächelnd auf dem Sterbebett lag, dass endlich Frieden zwischen uns eingekehrt war, schien sie augenblicklich ein Huhn mit mir rupfen zu wollen.

In Hinblick auf das marode Leichenhemd war ich froh, dass es für mich keine Beerdigung gegeben hatte und ich ihr nicht in eben dem gleichen albernen Outfit gegenüberstand, sondern als ganzer Kerl – Kleider machen auch tote Leute.

Gleich dahinter stand ihre Tochter, meine Exfrau. Den Strick noch um den Hals, in den ich sie angeblich getrieben hatte. Ihre Augen standen hervor. Sie sabberte mehr, als dass sie sprach, und ich war in dem Moment froh, dass ich das nicht mehr hatte erleben müssen. Tja, erleben nicht. Ersterben nun wohl schon. Und so las Mathilda mir die Leviten für das, was ich angeblich mit ihrer Tochter angestellt hatte, nachdem sie von uns gegangen war, nämlich nichts, denn mein Vergehen lag darin, dass ich sie weder berührt, noch mich hatte berühren lassen, noch hatte ich ihr sonst in irgendeiner Art und Weise die Aufmerksamkeit geschenkt, die ich anderen Frauen zuteilwerden ließ.

Meine Ex lachte wie eine Wahnsinnige und kam auf mich zu. Sie steckte ihre dürren Arme nach mir aus. Von ihren von Warzen überzogenen Händen berührt zu werden, war mir schon zu Lebzeiten ein Graus gewesen, und so wich ich zurück. Mit den Absätzen bereits wieder in der Kloake, kamen die beiden mir mit jeder vorgeworfenen Liaison näher und näher, und als meine Augen sich an das Übelpaket gewöhnt hatten, fielen mir Details auf, die ihnen aus sämtlichen Löchern zu fielen schienen. Gewürm. Gekrieche. Bester Biodünger. Ich schnappte gewohnheitsmäßig nach Luft. Wieso kam niemand und ließ die beiden zum Kalken von Feldern durchdrehen?

Hilfesuchend sah ich mich um, meine ästhetische Schmerzgrenze war erreicht. Wer bitte war hier für Recht und Ordnung zuständig? Es konnte doch nicht sein, dass nach dem Tod alle nur sich selbst überlassen waren. Ich lachte hysterisch auf. Die Brühe unter mir begann zu brodeln. Das Schwarz um uns wurde schwärzer. Ächzen und Stöhnen heulte aus sämtlichen Abflussrohren, die um uns mündeten. Und plötzlich spieen sie eine Armee an verkohlten Leichen aus. Manchen Toten fehlten Gliedmaßen. Wer nicht laufen konnte, kroch. Manche trugen ihren Kopf unter dem Arm. Sie schlurften, hinkten, schleppten sich geräuschvoll und zogen den Geruch sonntäglichen Barbecues mit sich, der nur wenige Meter hinter den Eintritten ins Niemandsland von dem des vorangeschrittenen Todes aufgesogen wurde.

Das Gekeife der beiden Weiber ging in den neu ankommenden Geräuschen unter. In dem Gedränge hatten sie zu tun, ihre Arme, Beine und Hemden bei sich zu behalten; denn Mann ist Mann, ob mit Kopf oder ohne Bein. Ich nehme an, die beiden zerfielen unter dem Rausch der Neutoten in ihre Einzelteile, was ich jedoch nicht genauer wissen wollte. Ich nutzte den Tumult, der entstanden war, wand mich durch das teilweise noch rauchende Fleisch der Ausgespuckten und suchte so schnell ich konnte das unbekannte Weite.

Ich hatte nicht damit gerechnet, aber nach einer Zeit ließ ich die Dunkelheit hinter mir. Ich erklomm zwei, drei Hügel, verspürte keine Müdigkeit und sah an mir herunter. Die Einstichstelle über dem Bauchnabel hatte aufgehört zu bluten. Die Haut meiner Hände war weiß. Ich schob die Ärmel nach oben. Auch der Rest sah aus, als käme ich frisch aus der Maske eines Vampirfilms. Nun, das Bühnenbild ließ zu wünschen übrig. Keine Kreuzfelder. Keine einsamen Kirchen oder Schlösser. Keine düsteren Dörfer, in die einzufallen, ich mir überlegen könnte. Auch verspürte ich weder Blutdurst noch Flugdrang, und während ich meinen wirren Gedanken nachhing, besann ich mich darauf, dass ich weder einem Vampirbiss zum Opfer gefallen war, noch würde ich blutführende Geschöpfe auf dieser Seite in imaginären Dörfern vorfinden. Fakt war, die Landschaft mir zu Füßen, würde für einen mittelmäßigen Heimatfilm herhalten können, wenn es zu seichten Szenen inmitten von Heuballen käme. Aber auch nur dann.

Winzige Flussarme schlängelten sich gelangweilt zwischen gleichmäßig geformten Hügelketten hindurch. Die Baumgruppen, die darauf verteilt waren, glichen sich wie ein Ei dem anderen und waren platziert, wie auf einer Modellanlage zur Errichtung einer weitläufigen Kuranlage zur Reizunterflutung. Es war windstill. Es flogen keine Vögel. Kein Laut erklang. Keine Wolke stand am Himmel. Eine Sonne sah ich nicht. Es war einfach nur oben hell und unten hellgrün. Es gab keine Notwendigkeit für mich, überhaupt noch einen Schritt zu gehen, denn wenn ich die Lage richtig durchschaut hatte, würden mich weder Hunger- oder Durstgefühle, noch Erschöpfung oder Müdigkeit ereilen, noch würden mir Gefühle, wie Kälte und Hitze oder Angst und Schmerz zu Schaffen machen. Das, was den Tod auf dieser Seite des Abwasserkanals in mir zu manifestieren schien, war eine gähnende und nicht enden wollende schrecklich fade Langeweile. Oh, mein Gott. Und das mir. Wo ich schon zu Lebzeiten keine ruhige Minute ertrug.

Ich musste immer irgendwo dabei sein. Und war die Aktion noch so primitiv und albern. Selbst, wenn es nur das Bierkastenschleppen für den örtlichen Feuerwehrverein zum jährlichen Sommerfest war. Genau genommen hatte ich zum Vereinsleben häufig nur im Verborgenen beigetragen. Wie oft mussten die Brände der vernachlässigten Gattinnen von mir gelöscht werden. Da war ich stets Feuer und Flamme, während mein eigenes Weib sich zu Hause grämte und dem Treiben der Uniformierten auf dem Feld vor unserem Haus nur aus der sicheren Entfernung zusah, sah ich das Lodern in den Augen der gefallenen Damen, in die ich all meine Liebe ergoss. Sie indes hatte schon lange aufgegeben, sich an gesellschaftlichen Anlässen zu beteiligen. Menschenscheu, ja, die Ärmste war menschenscheu.

Bei dem letzten Gedanken erinnerte ich mich der eben beobachteten überfallartigen Invasion geiler Leichen und ich verspürte einen kurzen Anflug von Mitleid, den ich jedoch rasch vom Hügel kickte.

Ich ließ mich nieder. Aus Gewohnheit. Mein Becken knackte – auf einem Berg hat man glücklich zu sein, darüber, dass man ihn erklommen ha – ich saß also da und spielte Glück. Mein Taschenbillard hatte ausgesorgt. Es gab immer noch keine Wolken, die ich hätte zählen können. Ich hatte nichts zum Beißen. Es gab nichts zu belauschen. Nichts anzufassen. Nichts zu erobern. Es schien nur mich zu geben und ein riesengroßes Nichts. Ich spielte mit den Fingern an der Hand und überlegte, ob ich zurückkehren sollte, um mich von den Verkohlten zerpflücken zu lassen, wobei ich mir nicht mal sicher darüber war, ob man auf der Seite der Toten noch etwas werden konnte, was toter war als das ohnehin schon erreichte Tote in einem. Und außerdem, wer sagte mir denn schon, dass die überhaupt ein Interesse an mir haben würden. Ich sah an mir herunter. Ich war flach wie ein Brett. Nun, ich könnte … mit etwas Mühe … würde ich vielleicht … ich sah mich nach etwas um, mit dem ich mich auspolstern könnte. Aber vergebens. Alles schien aufgeräumt. Kein Stein. Kein Stock. An den Bäumen keine Früchte. Blätter! Ich könnte die Blätter … aber ach, was! Wozu der Aufwand?

Wenn ich ehrlich war, nagte auch Neugierde an mir. Würde es noch irgendetwas anderes geben? Dieses designte Land konnte doch nicht alles sein, und vor allen Dingen, konnte ICH doch nicht alles sein. Wo waren die Toten hin, die vor mir das Zeitliche gesegnet hatten und wonach wurde ausgewählt, wer hierher kam? Oder kamen ganz einfach alle? Und wo blieben sie, verflixt nochmal, wo blieben sie bloß?!

***

Hinter welcher Türe steckt sie?

Von Berufswegen bin ich mit der Stille vertraut. Sie klingt verschieden. Sie rauscht. Manchmal tickt sie oder sie weht. Sie singt oder klopft. Weint ins Kissen. Kichert. Niemand kann diese Stille hören. Niemand, außer mir. Ich bin damit bestraft worden, kaum noch Reizen ausgesetzt zu werden. Ich hätte mich damit überflutet, sprach das tiefste Gericht. Zu Lebzeiten hätte ich andere damit ins Unglück gestürzt, als ich ständig nur nach Kicks gesucht hätte. Fortan würde man mir das für alle Todeszeiten vorenthalten. Fortan solle ich mein Wegsein in Einerlei und Ruhe fristen. Nun, aber ich wäre nicht ich, wenn ich nicht schlau genug wäre, dem hin und wieder zu entgehen. Ich hatte mich gut geführt und so war ich aufgestiegen zu einem der Diener, der dafür sorgte, dass das Abwassersystem niemals zum Erliegen kam. Wir wurden hinausgesandt in die Welt, um für toten Nachschub zu sorgen. Und ich war verantwortlich für den leisen Tod. Den, der auf Latschen kommt. Gemein und unerwartet. Ungerecht und viel zu früh. Ich war der für die Besten, die zu jung sterben.

Meine Hand hält noch immer die Plastikbänder auseinander. Der Lichtschein der Straßenlaternen fällt auf die Wand gleich neben der Tür. Ich betrachte die Kinderzeichnungen. Für Mama, steht über einem Haus, dessen Schornstein schräg vom Dach wegsteht. Das Haus hat einen Garten mit Teich, einem Weg und einem Apfelbaum. Drumherum ist ein Zaun. Auf dem Teich schwimmt eine Ente, die wie ein Schuh aussieht. Auf dem Giebel sitzt ein fetter Käfer, vermutlich ist das der Wetterhahn. Auf einem anderen Bild lacht in der Ecke eine Sonne. Ihre Strahlen sind gewellt. Rosa, orange und gelb wechseln sich ab. Daneben fliegen Wolken, die ebenfalls lachen und Arme und Beine von sich recken. Wieso kommt auf diese Idee drüben niemand? Ich hätte gerne Wolken, die Kopfstand machen. Beste Mama der Welt, steht auf dem dritten Blatt. Darunter fliegen Herzen in allen Farben. Außer rot. Könnte ich atmen, würde ich an dieser Stelle seufzen. Wäre mein Herz intakt, würde es an meine Brust klopfen.

Reiß dich zusammen, du bist geräuschlos durch Eichenholz gestiegen, du wirst jetzt schaffen, dieses winzige und für die Welt bedeutungslose Licht zu löschen. Es ist nur ein Weib, dessen Lodern in den Augen du zu Lebzeiten auch gelöscht hättest, wenn sie dich darum gebeten hätte und welche hätte das bei deinem Anblick nicht getan. Ja, du warst ein toller Hecht. Keine war sicher vor deinem Lachen, jede hast du in deinen Bann gezogen.

Ich drehe mich um, sehe in den Spiegel gegenüber. Sehe nichts, als bunte Plastikbänder. Strenge mich an. Konzentriere mich … los … dann ist es da. Ein Spiegelbild aus der Vergangenheit. Braun gebrannt bin ich. Mit schwarzen Haaren und blauen Augen. Ein lockeres Sakko über ausgewaschenen Bluejeans. Das Lächeln, mit dem sie mir verfielen und mit dem ich sie verließ, und mit dem ich das Knacken ihrer Herzen heraufbeschwor.

***

Es blieb oben hell und unten hellgrün. Es wurde nicht Nacht. Es blieb alles wie ein einziger Tag, an dem nichts geschieht. Es quälte mich, wie die Leere in meiner Ex, wie ihre Scheu vor dem, was Leben war. Quälte mich, wie das Nachhausekehrenmüssen, um vom Geldsegen nicht ausgespart zu werden.

Ich hatte mich kaufen lassen. Hatte meine Freiheit für das Ausgesorgthaben hergegeben. Kassierte die Zinsen, wenn ich mich in andere Schöße davon schlich oder auf Geschäftsreisen ging, um meine wirklichen Abenteuer zu tarnen. Abenteuer eines Mannes, der die Welt mit seinen Händen erfahren wollte, mit eigenen Augen mit Gaumen und Ohren. Ich begriff und reizte immer mehr aus. Als sie sich erhängt hatte, verkaufte ich Haus und Hof, dessen Eigentümer ich nun rechtmäßig war und setzte mich nach Südamerika ab.

In welche Richtung sollte ich gehen? Woher kam ich überhaupt?
Ich sehnte mich nach ein paar Felsen. Nach etwas, dass nicht glatt geschliffen war. Etwas, an dem man sich reiben konnte. Wie will denn etwas weitergehen, wenn nichts geschieht? Dann ist es doch eine Lüge, wenn es heißt, nach dem Tod geht es weiter, wenn nichts geht, wenn verdammt nochmal alles still steht. Alles? Ich sah an mir herunter. ICH! Ich konnte mich bewegen. Ich musste nicht stillstehen. Mein Motor würde niemals müde werden. Würden sich meine Knochen abnutzen? Mathildas Stümpfe fielen mir ein. Sie war zu Lebzeiten genauso rastlos wie ich gewesen. Bevor die Ärzte sie als Versuchskaninchen ans Bett banden. Sechs Jahre lang. War sie auch gelaufen, um den Stillstand zu entgehen? Noch trug ich Schuhe. Feinstes Leder. Handgearbeitet. Nur vom Feinsten für mich. Immer nur vom Feinsten.

Ich stand oben auf dem Hügel und sah ins Tal. Plötzlich zuckte mir kindliches Vergnügen aus der Erinnerung in den Magen. Ich sah noch einmal wehmütig auf meine Schuhe, doch dann legte ich mich hin, reckte nah am Kopf die Arme weit von mir und schloss die Beine. Rasch begann ich mich seitwärts zu bewegen. Ich erinnerte mich an den Duft frisch gemähter Wiesen, als wir Kinder waren, erinnerte mich an die Rufe meiner Freunde und die unendliche Weite des Berges vor unserer Haustür. Ich musste die Augen nicht schließen. Ich hörte sie lachen. Ich hörte sie rufen und auf einmal rollte ich inmitten meiner Freunde den Berg hinunter. Rollte und rollte. Die Erde drehte sich unter uns. Himmel. Wiese. Himmel. Wir überholten uns. Prallten aufeinander. Lösten uns voneinander. Rollten weiter. Lachten. Lachten. Von allen Seiten der irre Duft frisch gemähter Wiesen. Die Mädchen am Rand, die uns anfeuerten, Lisa mitten unter uns. Lisa, die niemals Angst hatte. Dann war alles still. Ich spürte den Boden unter mir und legte die Hände auf mein Gesicht. Hätte ich weinen können … Erinnerung kann ein Arschloch sein.

Ich stand auf und lief ein Stück, bis ich zum Abhang des nächsten Hügels kam. Ich wiederholte meine Reise in die Vergangenheit noch zweimal. Immer war Lisa mit dabei. Immer löste Traurigkeit das Kribbeln im Bauch ab. Konnte ich doch noch fühlen? Nach dem dritten Mal war der Weg zum Fluss nicht mehr weit. Ich war unten angelangt. Ich schritt schnurstracks auf das Ufer zu. Wasser. Es musste Geräusche hinterlassen. Es musste etwas bewegen. Wasser in Flüssen ist Bewegung. Ist immer Leben. Das muss auch hier drüben so sein

Je näher ich kam, um so dunkler wurde der Fluss. Und umso stiller wurde er. Was ich geglaubt hatte, zu hören, war nur aus mir gekommen. Es war das, was ich erwartet hatte. Doch nichts würde auf dieser Seite sein, wie ich es erwarte, denn ich wusste nicht, was ich mir vorstellen sollte. Ich hatte vorher keine Zeit damit verschwendet darüber nachzudenken, was nach den Geschäften kommen würde. Was nach dem Koks, das ich unterschlagen hatte, käme. Es war kein Fluss. Nicht einmal Wasser. Es war ein Strom an Gebeinen. Stillstand. Tod. Es waren die Wege der Toten, die es hierher geschafft hatten. Ich sah an mir herunter. Ich verstand die Logik nicht. Es blieb hell über mir. Hinter mir hellgrün. Hätte ich mich übergeben können …

***

So stehe ich vor dem Spiegel. Braungebrannt. Freude durch die Nase gezogen. Ein lachender Geschäftsmann. Umgeben von schönen Frauen. Umgeben von falschen Freunden. Das Bild beginnt zu flackern. Mit sieben Zentimetern Stahl in der Brust. Südamerika als Endstation. Jemand schreit mich tot. Ich lösche das Bild.

Konzentriere dich! Ich lausche an der ersten Tür. Die Stille spricht im Schlaf. Glucksende Geräusche eines Kleinkindes. Hinter der nächsten Tür atmet es ruhig. Das Fenster klirrt leise, als hinter dem Haus ein Zug sich nähert. Der Atem bleibt ruhig. Das Kleinkind lacht im Schlaf. Wo liegt die Mutter? Hinter der dritten Tür blubbert gleichmäßig das Wasser eines Aquariums. Irgendwo knabbert ein Hamster an einem Kanten Brot. Verdammt. Was soll der Frieden hier? Wieso diese Frau? Ich raufe mir die Haare. Ich stehe vor ihrer Tür. Sie weint ins Kissen. Ich denke an Lisa.

***

Fast hätte ich das Loch im Boden übersehen. Verdruss nahm mir die Freude am Sehen. Es war nicht mehr wichtig sehen zu können. Es war einerlei. Unten wie oben. Aber ein Loch. Verdammte Scheiße, ein Loch, das war doch was. Es war nicht irgendein Loch. Keins, in das nur ein Kaninchen verschwinden könnte, wenn es hier welche gäbe. Es war ganz eindeutig ein Loch, das für Hasen meiner Größe bestimmt war. Wie hieß nochmal dieser unsichtbare Hase? Harvey! Richtig. Wäre ich Harvey, könnte ich hinuntersteigen und Alice in ihrem Wunderland besuchen. Wir würden Nichtgeburtstag feiern und uns für bekloppt erklären. Ich war ich, und stieg trotzdem herab.

Stellte man sich alle Toten der Welt auf einem Haufen vor, so war dies der Gang durch sie hindurch. Es war genauso wenig Erde, was mich in diesem Tunnel umgab, wie es Wasser war, das das Flussbett über mir füllte. Das ganze designte Land jenseits der Grenze war ein Land aus Toten. Als würden alle Leichen aus Gräbern geholt, von Straßen gelesen, aus dem Meer gefischt, die es jemals gegeben hatte. Da bliebe nur die Frage, wie und warum und was steckte stattdessen in den Särgen, zu denen Angehörige pilgerten, das Obendrüber hübsch zu bepflanzen und ihren Kummer zu teilen. Was stahlen Leichenfledderer. Wer wurde exhumiert, wenn die Justiz es wollte. Und wieso steckte ich nicht in dieser Kreation? Wieso waren Mathilda mit meiner Ex noch unter den Beweglichen gewesen. Wohin führte der Tunnel. Wer hatte das alles gebaut.

»Fragen, über Fragen, was?«
Ich schrie auf. Was war das?
»Ich war das. Wer sonst? Hier unten bin nur ich.«
Ich sah die Hand vor Augen nicht. Ich drehte mich. Tastete die Wände ab. Fuhr über Schädel. Klapperte mit lose herabhängenden Fingerknochen. Hätte ich Angst fühlen können …
»Es ist alles ganz einfach.«
Ich dachte an Lisa. Als wir uns im Zeltlager in der Höhle verirrten. Die coole Lisa, die sich zitternd an mich lehnte, und der ich versprach, wir kämen lebend da wieder raus. Ich dachte schon wieder an Lisa.
»Dumm gelaufen mit dem Mädchen, oder?«
»Verdammt, wer bist du?« Es war sonderbar, meine Stimme zu hören. Sie klang farblos und … tot.
»Ich bin das Ende, das alles frisst, was von euch bleibt.«
»Witzig.«
»Das sollte es eigentlich nicht sein.«
Ich tastete weiter. Fuchtelte mit den Händen in der Luft herum. Wie sah das Ende aus? War es das, was ich oben gesehen hatte? Oben hell und unten hellgrün.
»Es sieht für jeden anders aus. Jeder erschafft sich das, was er am meisten fürchtet. Jeder, der den Tod fürchtet, erschafft sich auf der anderen Seite die Hölle. Und für jeden sieht die Hölle anders aus. Ich hingegen fresse eure Erinnerungen und Träume. Das, was eure erbärmliche kleine Seele zu retten versucht. Aber auch sie entkommt dem Ende nicht. Aus euren Körpern baut sich das Land, das euch erschreckt. Und aus euren Seelen wird das Licht. Das Helle über dir sind die Seelen der Toten, nachdem ich ihre Bilder fraß.«
Keine Sonne. Keine Wolken. Das Licht.
»Es gibt nur Tod nach dem Tod. Und ein letzter Rest an Möglichkeiten für die, deren Rechnungen noch nicht beglichen sind.«
»Mathilda?«
»Sie wollte dir noch die Leviten lesen. Das war alles. Und ihre Tochter hatte nicht viel zu bieten für mich. Sie war eine Hülle ohne Phantasie. Ihre Erinnerungen blass wie dünne Milch. Ich habe sie ihr an die Hand gegeben. Ich bin ja kein Scheusal.«
»Bist du nicht?«
»Nicht mehr Scheusal als der Mensch schlechthin.«
»Und ich?«
»Du bist reich an Bildern. An dir werde ich lange speisen können. Du bist kaum lädiert. Ich kann dich einsetzen, um mir Frischfleisch zu besorgen. Du wirst einer meiner Diener. Ich kann mich nicht nur auf die Menschen verlassen. Bisweilen töten sie recht fleißig. Ich habe meine Freude an euch bei Kriegen und Katastrophen. Das vergrößert mein Land. Aber ich habe schließlich auch einen Sinn für das Schöne. Ab und zu will ich gut geratene Leichen mit leuchtenden Erinnerungen bei mir sehen. Die mit bunten Träumen. Die noch daran glauben, dass Träume wahr werden. So sind sie mir am liebsten. Wilde Abenteurer. Verrückte Sportler. Waghalsige. Liebende. Ich lieeeebe ihre Erinnerungen. Ein Festmal, sage ich dir, ein wahrhaftiges Festmahl, du verstehst?!«
»Und du bist kein Scheusal?«
»Na-na-na! Das fragt der Richtige … welch größeres Scheusal, sich in wohlhabende Familien zu schleichen, die minderbemittelte Tochter des Hauses zu ehelichen und sie mit willigen Müttern aus dem sozialen Umfeld zu betrügen. Tz-tz-tz … das fragt der Richtige!«
»Ich war nicht immer so.«
»Ich weiß. Und wieso beklagst du dich überhaupt? Du läufst noch auf deinen eigenen Beinen. Ich brauche nur mit den Fingern zu schnippen, und deine selbst erdachte Landschaft verschluckt dich auf der Stelle. Schneller, als du deine Schuhe noch einmal bewundern kannst.«
»Schon gut, schon gut.«

Anfänglich hatte ich an den Mündungen für Ordnung sorgen müssen. Nach Katastrophen mussten wir Leichenteile zusammensammeln und abtransportieren, damit die Rohre nicht verstopften. Ich arbeitete immer allein, obwohl ich wusste, dass es viele meinesgleichen gab. Doch meine persönliche Hölle war die Einsamkeit. Und das Ende ließ nicht mit sich reden. Ich blieb im Tod ein Eremit.

Meine Erinnerungen nahmen mit der Zeit ab. Es fraß sie, wenn ich gerade nicht dachte. Zum Schluss war mir nur noch Lisa geblieben und mein berauschendes Ende in Brasilien.
Da ich meine Sache gut machte, wurde ich endlich Traumfänger.

***

Traumfänger. Einen hinterhältigeren Begriff für meinen Job kann ich mir kaum vorstellen. Die junge Frau schluchzt. Wovon sie wohl träumen wird? Ich will warten, bis sie schläft. Kurz vor der Tiefschlafphase schmeckt es ihm am besten. Ich kehre zurück zu den Kinderzeichnungen. Die Laterne flackert. Der nächste Zug fährt vorbei. Der Bosch springt an. Plötzlich öffnet sich die Tür ihres Zimmers. Rasch springe ich in die Küche und dränge mich hinter den Schrank. Ich könnte durch die Wand schlüpfen, würde im Kinderzimmer landen mit den glucksenden Geräuschen und dem Lachen im Schlaf. Aber ich bleibe stehen.

Die Frau betritt die Küche. Geht zum Bosch und öffnet ihn. Ihr Haar leuchtet feuerrot. Ich denke an Lisa. Hätte ich ein Herz … sie greift nach dem Orangensaft. Nimmt einen großen Schluck. Schließt die Tür. Die Laterne flackert. Vor dem Haus startet ein Lkw. Mein Blick fällt auf die Uhr an der Wand. Vier Uhr morgens.
Ich denke an Lisa. Ich hatte ihr versprochen, dass wir es aus der Höhle schaffen. Sie liegt jetzt irgendwo in meinem Land da drüben und ihre Träume sind längst gefressen. Könnte ich weinen … die Frau verlässt die Küche und geht ins Bad.

»Nimm es nicht persönlich«, sage ich zu ihr und drücke meine Hände langsam um ihren Hals. Als sie aufhört zu zucken, nehme ich das als Zustimmung und bin erleichtert. Es ist fünf Uhr. Die ersten Menschen laufen zum Bahnhof. Die Stadt erwacht und das Leben nimmt seinen Lauf. Jeder wird Erinnerungen sammeln. Mancher wird sie verfluchen. Einige werden träumen. Ein paar werden über den Tod nachdenken und darüber, was danach kommt.
Ich bleibe noch sitzen. Es wird das letzte Mal sein, dass ich Menschen sehe. Dass ich Bewegung sehe. Ich könnte ihnen etwas von dem erzählen, was ich weiß. Ich könnte ihnen sagen, dass sie träumen sollen, so viel sie können, dass sie Erinnerungen sammeln sollen, so viel sie können. Und dass sie sich das Ende schön vorstellen sollen. Dass sie am besten nichts fürchten sollen, weil es dann auf der anderen Seite vielleicht gar nicht so tragisch wird, bis auf die Tatsache, dass man ihnen ihre inneren Bilder Stück für Stück nehmen wird

Ich streiche der alten Frau über die Haare. Sie wäre in einer der nächsten Nächte erfroren. Ich hoffe, dass für sie die andere Seite ein Schlaraffenland wird. Mich wird das Ende verschlingen. Ich bin bereit. Ich habe Lisa gesehen. Wer sie heute sein könnte. Ich konnte dieser Familie die Bilder nicht nehmen. Ich denke an die Wolken, die am Himmel Kopfstand machen und trete mit der Frau auf dem Rücken den Weg zu meinem Ende an.

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