küsse für drei tage


»Ich sollte dort wirklich anrufen«, sagt Lara und lässt das Faltblatt sinken, »hast du dir das mal durchgelesen? Das einzige …«, sie hält inne, für einen Moment bemüht, das Zucken um ihre Mundwinkel zu beherrschen. Kaum zu unterdrückende Vorfreude. Groß ist die Sehnsucht. Und die Vorstellung von Abwechslung prickelt hinter der Stirn. Herzlich Willkommen in meinem Leben als überzeugter Single. Zwischen Ones und Einsamkeit … wenn sie ehrlich ist, kann sie den zur Sache gehenden Einmalsachen nur im Vollrausch etwas abgewinnen, aber das hier …

Lennert entgeht ihre Hibbelei nicht. In der Bar läuft die Top Ten der Soundtracks von Terentino Filmen. „Don’t let me be missunderstood“, Massakerbegleitmusik zu einem der schönsten Themen der Welt, er summt mit. Dann spreizt er zwei Finger und bestellt, »Tom, bringst du uns Champagner auf Eis?«
»Kommt sofort«, der smarte Barmann rückt seine Brille zurecht und unterbricht das Säubern der Espressomaschine. Dann verschwindet er im Hinterzimmer. Lennert liebt die Nische, in der sie sitzen. Er beobachtet die beiden Stammtrinker am Tresen. Die Köpfe im blauen Dunst versteckt, wippen sie mit den Füßen zur Musik und unterbrechen ihre Starre nur für das Abklopfen der Asche. Die Nachmittagssonne dringt nicht zu ihnen vor.
»… das einzige, was ich nicht verstehe, wie soll denn garantiert werden, dass es beim Küssen bleibt?«
»Hm«, Lennert ist von Tom in den Bann gezogen und sieht ihm dabei zu, wie er die Flasche öffnet und den blauen Plastikkübel mit Eis befüllt. Die Zange stülpt er über den Rand, stellt alles aufs Tablett und steuert ihren Tisch an. Er lässt Tom nicht aus den Augen, während der Flasche, Gläser und Eiskübel abstellt.
»Hier habt ihr noch ein Schälchen Knabberzeug.«
»Dankeschön!«
»Sehr gern«, sagt Tom, »macht ihr das mit der Flasche alleine oder soll ich …?«
»Schon gut, Tom, machen wir.«
»Lennert, du bist meine beste Freundin. Kannst du bitte noch kurz bei mir bleiben mit deiner Aufmerksamkeit? Auch, wenn’s schwerfällt, ja?! Ich hatte wirklich keine Ahnung davon, dass es einen Kuss-Lieferservice gibt. Wie bist du bloß darauf gekommen?«
»Was?«, Lennert dreht den Kopf zu Lara und nimmt ein Glas, »Schätzchen, etwas Eis?«
»Ja, bei dem Wetter keine schlechte Idee! Aber wie …«
»Na ja, ein Freund von mir jobbt dort manchmal.«
Der Korken schießt an die Decke und Lara zuckt zusammen.
»Ein Freund von dir? Du meinst, die schicken mir ’nen Schwulen, wenn ich einen Kuss bestelle?«
»Hm. Das weiß ich gar nicht. Wäre allerdings möglicherweise ein Garant dafür, dass nichts als bloßes Küssen läuft, oder?«
»Ja. Mehr will ich auch nicht. Ich bezahle genau dafür, dass ich hemmungslos rumknutschen kann, ohne dass ich danach gleich wieder mit jemandem im Bett lande, der dann auf Nimmerwiedersehen verschwindet. Auf die Dauer ist das für mein Ego nämlich Scheiße.«
Eis klirrt in die Gläser. Das kobaltblaue Pommery-Etikett leuchtet. Der Champagner läuft über die Ränder.
»Na, dann Cheerz, mein Schätzchen, auf einen perfekten Kuss to go!«

***

»Es ist nur noch einer ohne Deutschkenntnisse übrig«, sagt die freundliche Telefonstimme, als Lara bei dem Lieferservice anruft, »oder du nimmst ein Mädchen …«
Kurz überlegt sie. Ein Mädchen wollte sie nicht. Eigentlich …
»Der küsst aber auch besonders gut. Kommt aus Südamerika. Also ich an deiner Stelle …«
Was genau sollte das heißen?
»Ich brauche zum Knutschen weder Deutsch noch gebrochenes Englisch. Und die Hautfarbe ist mir schnuppe. Ich nehme euren letzen Mann.«
Hektisch schiebt Lara das größte Chaos unters Bett, verhängt den Spiegel, obwohl er blind ist, und dreht die Bilder zur Wand. Sie will nicht, dass ihre blutrünstigen Werke ihr bei diesem ersten Versuch zusehen. Wer weiß, wie sie sich dabei anstellen würde. Bisher hatte sie sich nur Pizza und Nudeln bringen lassen.
Sie zieht die schwarzen Vorhänge zur Seite und steckt fliederfarbene Tücher mit Reißzwecken als Sichtschutz fest.
»Kein Platz der Dunkelheit!«
Noch einmal überfliegt sie das Kleingedruckte. Mehr als Küssen ist verboten. Grinsend denkt sie an das Lied der Prinzen. Sie will nicht mehr, aber das richtig. Eigentlich.
Zur abgesprochenen Zeit klingelt es drei Mal. Festgelegtes Zeichen. Zwei Mal kurz. Ein Mal lang.
Sie öffnet, um ruhigen Atem bemüht. Mit einer Rose in der Hand steht er vor ihr.
»Kundenservice, wegen des besonderen Tages«, sagt er mit spanischem Akzent und einem Lächeln, dass ihre Knie weich werden lässt.
Wieso trägt er sie nicht zwischen den Zähnen? Das muss ich später unbedingt bei der Bewertung mit aufnehmen. Sie räuspert sich. Sollte ich ihn hereinbitten? Ja, logisch, ihm den Kuss zwischen Tür und Angel wie einen Pappkarton aus den Händen zu reißen, wäre dämlich.
»Willst du …«
Er schließt die Tür mit dem Fuß, wirft die Rose aufs Bett und drängt Lara langsam gegen die Rückseiten ihrer mordenden Waldmonster, noch bevor sie ihre Frage beenden kann. Ihre Überlegungen rutschen abwärts. Gerade soviel, dass sie ihr Höschen nicht mit sich reißen. Hallo, Kontrolle?! Doch während sie danach sucht, stützt der Bote seine Arme rechts und links von ihr gegen die Wand und senkt seinen Kopf zu ihr herunter. Er ist einen Kopf größer als sie. Durch seine dunklen Locken funkeln grüne Augen hemmungslos intensiv.
»Ich bringe Ihnen den bestellten Kuss, Señorita.«
Für einen Moment überlegt Lara, ob sie ihm genauso viel Trinkgeld wie dem Pizzaboten geben sollte, oder etwas mehr, oder … dann ist es endgültig aus mit dem Denken. Dann lösen sich Kopf und Magen in Luft und warme Wirbel auf. Dann ringen sie um die tiefsten und verborgensten Winkel in der Höhle des anderen. Laute aus Hitze und Begehren liefern sich ein Gefecht. Fordernd. Hingebend. Fragend. Ihre Münder formen stumme Sätze, die als Antwort nur eines verlangen; den Stillstand von allem, was nicht zwischen zwei Menschen passt. Bis zur Erlösung.

»Wenn ich’s so mache, liebst du mich, oder?«, fragt sie und küsst sich zu ihm hinauf.
»Yourrrr sooo amazing«, gurrt er mit tiefer Stimme, die vom Hals hinab bis in ihren Magen vibriert, »that’s never happened to me before. Yourrrrr sooo amazing, baby.«
»Und du schmeckst gut …«
Er zieht ihren Kopf zu sich. Küsst ihre Augen. Die Stirn. Ihren Mund. Sehr lange ihren Mund.
Wenn sie will, wird sie ihn drei Tage spüren. Der Typ ist wenig gewinnbringend für den Laden. Sie grinst schadenfroh. In beliebigen Momenten wird sie das weiche Nachbeben auf Zunge und Lippen abrufen. So, wie es am Anfang ist, wenn es besonders ist. Wenn Magie alles umflirrt …
Er zupft ihre Lippen zwischen seine, die weich und voll sich ganz darüber stülpen und nicht wieder loslassen. Saugt an ihnen. So leicht, dass es an das zufriedene Nuckeln eines satten Babys erinnert. Abwesend. Die Augen geschlossen. Inmitten des Lippenknäuels suchen sich die Spitzen ihrer Zungen. Er malt Kreise um ihre Zähne. Ihre Nasen berühren sich. Arme und Beine verwoben. Süße Lügen vom Lieben im Kopf.
Seit einer Stunde hat er Dienstschluss. Sie nennt ihn Kissme und lässt sich erschöpft und zufrieden neben ihm ins Kissen fallen.
Hoffentlich hat sich Tom auch rumkriegen lassen. Meine Ausgabe heute hat sich jedenfalls mehr als gelohnt. Sie dreht sich zu ihm und schließt die Augen … und die Welt bleibt draußen am Tag des Kusses.

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