Balduin Bormann lebt in kleiner Wohngemeinschaft. Nur er, Mutters Katze und die Stimme im Kopf. Das mit der Stimme ist neu. Bis vor kurzem hatte sie Mutter gehört. Dann kam ihr Tod alles andere als schleichend.
Tagelang hatte sie mit ihrem Stock gegen Heizungsrohre geschlagen. Gegen Türen und Wände. Immerfort geschrien, die Russen kommen! Aus dem Fenster: Haut ab! Jeht wech! So lange um sich schlagend, bis sie erschöpft zu Boden gesunken war. Wenig später starb sie. Doch in Bormann sorgt ihre Stimme sich weiter und erinnert: Willst du alt werden, wie Muttern, jehe spazieren und iss Haferflocken, Junge!
Daran hält er sich. Ist extra in die Dachkammer gezogen. Fünfter Stock. Ohne Aufzug. Würde er morgen ins Gras beißen, dann mit einem glücklichen Körper. Übermorgen auch. Alkohol trinkt er ausschließlich heimlich bei lauter Musik. Das Bild der Katze dreht er dabei zur Wand.
Die Glocken haben fünf geschlagen. In zwei Stunden beginnt die Lesung im Kulturverein. Er wird nicht die Öffentlichen nehmen. Heute wird er spazieren.
Bedeutsam schreitet Balduin Bormann die Stufen zur Uferpromenade hinab und kostet den Moment aus, als beträte er als Held eine Arena. Sein Publikum: Abendsonne. Leichter Wind. Stimmen. Das typische Gezwitscher um diese Zeit. Gangschaltungsgeräusche – die Radfahrer wollen den Weg zur Straße hinauf nicht absteigen. Das Tuckern eines Dieselmotors auf dem Kanal. Weiter entfernt: Sirenen. Das ist seine Stadt.
Nach ein paar Schritten fällt ihm eine Menschenmenge auf. Touristen. Pärchen. Jugendliche. Unmengen Schwäne, jenseits der Uferböschung, ziehen deren Blicke auf sich. Nichts als Weiß auf der Wasseroberfläche. Würde man Schwäne verspeisen wollen, könnte man hier aus dem Vollen schöpfen. Bormann verzieht das Gesicht, bei dem Gedanken. Er hat nichts übrig für diese gefährlichen Biester.
Fast macht es ihm die Stimmung kaputt, doch plötzlich legt er den Kopf schräg und lächelt. Die Pappeln am Ufer hinterlassen ihre Blütenstände. Sammeln sich unter den Hecken und auf dem schwarzen Weg. Er hält inne und bestaunt den seidigen Flaum, wie ein Mensch, der zum ersten Mal Schnee sieht. Die anderen haben nur Augen für das Federvieh. Oder sich selbst. Oder gar keine Augen für irgendetwas. Gangschaltungsgeräusche. Nur Ziele, die sie schnellstmöglich zu erreichen suchen. Er schüttelt den Kopf.
Gemeines Fußvolk, murmelt er und wirft das lange Ende seines Schals zurück. Rote Fusseln bleiben in seinem Bart hängen. Ein Windzug weht den Stoff wieder zurück nach vorn. Geht in Gedanken versunken weiter. Die 86jährige Amalia hatte ihm den Traum aus Kaschmir zum Weihnachtsfest geschenkt. Seine treueste Anhängerin. Auch der fünften Lesung zu immer demselben Buch wird sie beiwohnen. Er muss ihn unbedingt tragen heute. Jetzt jedoch fühlt er sich gestört, nimmt ihn ab und verstaut ihn in der Jackentasche.
Ein Blick auf die Uhr. Weitergehen!
Eine Kinderstimme ruft, fang mich doch, du altes Loch!, ohne Unterlass. Ruft es immer wieder. Andere kreischen. Ohne den Schritt zu verlangsamen, dreht Bormann sich zu ihnen um. Sieht im Vorbeigehen große und kleine Kinder. Sie rennen, klettern, schreien, rufen, werfen mit Sand. Meinten nicht ihn. Und sieht, die Köpfe zusammensteckt, an einer einzigen Stelle: deren Mütter, die nur sich selbst und nichts sonst wahr nehmen. Nicht die Kinder. Nicht ihn … und nicht den Mann, der außerhalb des Spielplatzes, ganz am Ende, seinen Körper zur Hälfte in die Hecke drückt, einen Beutel in seinen Händen knetet und das Treiben und Tummeln auf dem Spielplatz beobachtet. Fang mich doch, du altes Loch!
Bormann verlangsamt seine Schritte. Gedanken zucken durch seinen Kopf. Am helllichten Tage? Gut, es ist bald achtzehn Uhr. Aber doch mittendrin. Zwischen all den Leuten, die hinter dem Mann mit dem Stoffbeutel den Biergarten betreten könnten, die auf der anderen Seite am Wasser sitzen oder, so wie er, auf ihn zusteuern und an ihm vorbei gehen würden. Steht da, halb versteckt, und scheint die Welt um sich vergessen zu haben. Steht da, und giert so offensichtlich nach etwas, dass es Bormann dazu bringt, halb fasziniert, halb angewidert seine Augen nicht von ihm zu lassen. Das ist so einer! Das ist bestimmt so einer, der sich an Spielplätzen herumtreibt und auf eine Gelegenheit wartet. Und alle lassen es zu. Alle!, denkt Bormann, und scheint doch der Einzige, der den Mann mit dem Stoffbeutel in seiner alles verratenden Körpersprache stehen und leiden sieht.
In Sekundenschnelle speichert Bormann dessen Bild. Ein unauffälliger Typ. Harmlos. Dunkel gekleidet. Ein Langweiler. Ängstlich und krank.
Bormann kann den Blick nicht von ihm lassen. Geht weiter. Sieht hin, wie zu etwas, das man nicht sehen will, und wovon man die Augen doch nicht lassen kann. Je näher er kommt, umso mehr Gedanken schießen ihm durch den Kopf. Überschlagen sich. Schreiben Schlagzeilen. Schlagzeilen, die er, würde er nun – nicht – achtlos weitergehen, verhindern könnte. Und so wächst die Idee und ufert aus. Wird ihn ohne weitere Überlegung handeln lassen. Mutter ist dabei und feuert ihn an.
Sein Entschluss scheint Bormann ins Gesicht geschrieben. Der Mann nimmt ihn plötzlich wahr und weicht erschrocken aus der Hecke hervor. Nur noch wenige Meter liegen zwischen ihnen.
Fang mich doch, du altes Loch!
Für einen Moment senkt er die Augen auf den Beutel in seiner Hand. Dann tritt er zur Seite. Sieht hinter sich und dreht im nächsten Augenblick ab. Er nimmt den schmalen Weg hinter dem Spielplatz in Richtung Biergarten. Ein Pärchen folgt ihm. Redet aufgebracht. Unterste Schublade.
Eine völlig neue Möglichkeit, denkt Bormann, Horizonterweiterung! Gleichzeitig wird er der Gesellschaft einen Dienst erweisen. Wirkungsvoller, als mit einem Anruf bei der Polizei.
Ja, Junge, mache diesem Halunken den Gar aus!
Mutter.
Langsam zieht Bormann den Schal aus der Tasche. Hängt ihn um. Biegt ab zu den Toiletten.
Das Pärchen hat sich einen Platz bei den Biertischen gesucht. In sich versunken. Ein Kind läuft an ihm vorbei. Springt in den Schotter unter den Kastanien. Die Hände voller Kieselsteine. Bormanns Puls rast. Auf der anderen Seite fliegen Schwäne auf.
Fang mich doch … immer wieder.
Der Mann mit dem Stoffbeutel ist nicht mehr zu sehen. Er MUSS auf einer der Toiletten sein. Bormann erreicht den dunklen Verschlag. Schweiß auf der Stirn. Lichteinfall durch ein paar Glasbausteine. Drei Türen vor sich. Abgesplitterter Lack. Einstichstellen. Geritzte Namen. Herzen. Unisex.
Nichts geht über wahre Gefühle und Selbsterlebtes. Die Leser werden spüren, wie es ist, die Hände um den Hals eines Stück Abschaums zu legen. Der hat nicht verdient zu leben! Der ist Gefahr für unsere Ordnung.
Bormann drängt sich an die Wand. Lauscht. Hört den Atem des anderen. Steht im Schatten des Verschlags.
Irgendwann muss er herauskommen. Irgendwann? Hoffentlich bald. Die Lesung. Oh, verdammt.
Komm endlich raus!, brüllt Bormann da plötzlich, und sieht sich erschrocken um. Niemand da. Doch die Klinke der rechten Tür bewegt sich. Liegt im Schatten, gleich bei Bormann, der sich in die Hand beißt.
Die Leser werden wissen … die Hinrichtung … Der Kreatur innerer Gestank als letzte Gabe.
Die Tür öffnet sich. Der Mann tritt heraus.
Es wird so überzeugend sein, wie es noch keinem vor ihm gelungen ist. Für sein nächstes Buch wird er nicht imaginieren müssen. Bestsellerbastler! Ich zeig’s euch!
Sind die beiden weg, fragt der Mann zögerlich, als er im Halbdunkel Bormann gegenübersteht, oder sitzen die noch im Biergarten?
Bormann reißt die Arme hoch. Die Hände auf Brusthöhe zum Würgen bereit. Der Mann reißt die Augen auf. Der Beutel fällt. Will ihn abwehren … doch Bormann hat ihn schon gegen die Brust gestoßen.
Dit is nur Ablenkungsmanöver!, ruft Mutter, denk an deine Karriere, dit nächste Buch! Die armen Jören! Balduin, los!
Der Mann fällt in die Toilettenbucht zurück, prallt mit dem Kopf gegen die Wand. Der Sitz kracht. Billiges Plastik. Die Stadt ist pleite. Augen und Mund aufgerissen. Tonlos. Der Beutel am Boden. Bormann ächzt. Kneift die Augen zu. Kneift fester mit jedem Maß mehr Kraft, das er in seine Hände legt. Gurgeln aus dem Hals. Vor Anstrengung. Er vergisst den Schal.
Jut, Junge, Jut so! Dit hält dich fit!
Später, wenn Amalia mit leuchtenden Augen vor ihm steht … Leuchtend aufgerissen, wie die Augen des Mannes, die im Halbdunkel herausfallen wollen und in denen sich die Glasbausteine spiegeln. Tonlos.
***
Bormann wäscht das Erbrochene vom Schal.
So könne er Amalia nicht gegenübertreten, hatte Mutter gesagt, und er war zurück zur Dachkammer gelaufen. Der Kulturverein würde Verständnis zeigen. Familiärer Todesfall.
In dieser Nacht schreibt er mehr als dreißig Seiten.
Zwei Tage vergehen. Bormann ist übernächtigt. Unrasiert. Er denkt an die Glasbausteine in den Augen des Heckenmannes. Bekommt die Haferflocken nicht herunter. Legt den Löffel zurück. Kratzt sich das Kinn. Als er den Teebeutel auf und ab wippt, erschreckt ihn ein Geräusch. An das Klappern des Briefschlitzes in der Wohnungstür hat er sich immer noch nicht gewöhnt. Unwillkürlich zieht er die Schultern zusammen. Die Schritte des Boten poltern die Treppe hinab.
Vor ihm dampft der Tee. Im Hinterhof setzt das Gezeter von Krähen ein. Hektisch steht Bormann vom Tisch auf und schließt das Fenster. Kurz bleibt er stehen. Die Augen starr zum Korridor gerichtet. Wie eine Klageschrift liegt die Zeitung am Boden. Er atmet tief ein und aus, dann schlurft er aus der Küche und hebt sie auf. Als er im Schatten der Tür das Papier berührt, ist es, als führe die Botschaft wie ein Donnerschlag in ihn. Nur eine Ahnung, doch sie genügt, um Mutter verstummen zu lassen und ihm die Luft zu nehmen.
Wankend geht er zurück ins Licht der Küche. Lässt sich zum Lesen gegen die Wand fallen. Dabei streift er das Katzenbild. Klirrend zersplittert es am Boden. Er riecht die Druckerschwärze, und sieht, wie die Schlagzeile in seinen Händen zittert. Doch zu Bormanns Entsetzen lautet sie anders, als in der Vorstellung der vergangenen Stunden:
VATER mit Umgangsverbot von Kindesmutter und Freund im Rausch ERWÜRGT – KIND jetzt bei PFLEGEELTERN.
Das Bild des Opfers darunter erkennt Balduin Bormann sofort wieder, trotz des schwarzen Balkens über den Augen: Ein unauffälliger Typ. Harmlos. Dunkel gekleidet. Ein Langweiler. Ängstlich und krank.