ich habe zeit


Ich trete zur Trübsinnigkeit bereit aus dem Haus … und bin geblendet. Das Grün der Linden beglückt mich leuchtend und unabsichtlich. Vollkommen. Es ist lange her, dass ich etwas so Selbstverständliches in derartiger Schönheit wahrgenommen habe. Auf der Stelle bade ich meine Lungen in frischer Seitenstraßenstadtluft und schließe für einen Moment die Augen. Es gibt immer einen Grund, denke ich und spüre, wie Zynismus mein Gesicht mit einem Lächeln bemalt. Dann halten meine Blicke sich wieder in den Baumkronen fest. Ich genieße den Wind an den Wangen. Im Zitterspiel der Zweige diamantiert das Morgenlicht die Zwischenräume. Laub löst sich zuckend voneinander. Augenblicke voller Sonnenblitze. In jedem Lid der Bäume halten Blattadern die Zellschicht, die die Stadt zum Atmen braucht. Die ich zum Atmen brauche. Funktioniert das nicht – funktionierte es weltweit nicht, hätte die Welt ein Problem. Ich habe das Problem auch so. Noch nicht heute. Erst in ungefähr acht Wochen. Und kein Lindenblatt dieser Erde wird das zu verhindern wissen. Der Trübsinn verbeißt sich im gefundenen Grund.

Heute ein Gitarrensolo im Abspann, denken sich die Worte von allein, und ich setze mich auf die Stufen vor dem Hauseingang. In meiner Hosentasche raschelt der Brief. Bemüht, ihn zu ignorieren, lausche ich den eigenwilligen Saitenklängen in Ruhe. Wie überkochende Suppe schwappen die Töne von dem Fensterbrett des gegenüberliegenden Blocks. Ich sehe hinauf zum dritten Stock. Das zweite Fenster von rechts steht weit auf. Der Rahmen glänzt rot lackiert. Die Glasfelder alltagstaub.

Ich habe das Spiel schon oft gehört und mich gefragt, wessen Musikerseele auf Reisen geht. Ich versuchte die Stimmungen zu deuten. Stellte mir vor, er spiele für mich. Saß dabei in Dunkelheit, weil ich mich vor Ein- und Ausblicken geschützt wissen wollte. Einmal wurde ich ganz sicher in meiner Annahme, da ward sein Spiel von Melancholie getragen, die der meinen so nah, wie zwei bebende Lippen zueinander.

Jetzt zieht es mich ins Licht. Absurd. Jetzt, wo ich um die Endlichkeit endlich weiß. Mehr weiß und sicherer weiß, als das übliche, man weiß ja nie, was noch passiert.

Es hat noch Zeit, den Brief zu lesen. Ich habe Zeit, denke ich. Fast macht es mich froh. Dankbar auch. Ich habe es gewollt. Immer gewollt, zu wissen, wenn mir nicht mehr viel bleibt.
Und ich will ihr mit offenen Augen entgegentreten.
Hallo Zeit, will ich sagen, wir haben noch viel vor miteinander. Lass uns gleich damit anfangen!

Ich sitze mit einem Rascheln am Hintern und beginne mit dem Rest meines Lebens. Grinse in die blinkenden Lindenkronen, beuge meinen Kopf, um wieder das offene Fenster zu beträumen … ob ich ihn sehen werde? Könnte ich denn einfach … ja, ich könnte doch klingeln! Vierter Stock. Drei Versuche maximal. Davon ein garantierter Treffer.

Das ist das Tolle an acht letzten Wochen. Du traust dich, was du dich sonst nicht traust. Es ist der Reichtum Eines, der nichts mehr zu verlieren hat. Nichts mehr. Nie mehr.

Ein Spatz landet vor meinen Füßen. Die Frau über mir streut Futter auf den Weg. Leise landen die Sonnenblumenkerne auf den Gehwegplatten und flattern Haferflocken hinterher. Ein zweiter und ein dritter Sperling folgen dem Mutigsten. Sie nehmen mich wahr. Ich sitze reglos. Sehe ihre schwarzen Knopfaugen. Stecknadeln gleich. Das Vögel so hüpfen können? Ob sie Jazz mögen? Ob sie die Musik hören? Sie klingt nicht recht nach Balzgesang. Nicht für Sperlinge, glaube ich. Wonach klingt sie heute für mich?
Komm herauf zu mir, ich spiele für dich. Ich schreibe dir ein Stück, wenn du es willst, für deine Abschiedsparty. Abschiedsparty? Nein. So will ich das nicht. Ich werde das alleine feiern. Vielleicht mit fremden Menschen, denen es nichts ausmacht, wenn ich von meiner Zeitgeschichte erzähle. So, wie dem mit der Gitarre. Aber den anderen? Bei denen ich vielleicht ein Loch hinterlasse? Was wäre das überhaup für ein Loch? Eins, in das sie Erinnerungen packen, an gemeinsame Zeit? An Streitereien? An Herumgealbere? Ich schüttele den Kopf. Das Bild gefällt mir nicht, ein Loch zu lassen. In Löcher begräbt man etwas …

Somewhere over the rainbow, spielt er da plötzlich und buddelt den Sog für meine Gedanken tiefer. Mir wird mit einem Mal kalt. So weit weg hatte ich noch gar nicht gedacht. Der Weg, mir war immer der Weg wichtig. Das Ziel. Das Ende. ENDE. Vier Buchstaben unter guten Filmen oder Romanen. ENDE, knistert es am Hintern. Verdammt, halt die Klappe. Ich weiß, was der Brief will. Es wird mir sagen, wann ich mich einzufinden habe für intravenöses Morphin. Aber ich will mich nicht einfinden. Ich will der Sache nicht so entgegensehen. Ich will blind sein. Blind sein vor lauter Freudentränen über das Schöne, was ich noch erleben werde. Und schön wird sein, was ich daraus mache.

Die Spatzen sind aufgeflogen. Habe ich sie erschreckt? Mit den Füßen aufgestampft? Lass mir doch die Musik, denke ich und sehe hinauf. Das Fenster ist geschlossen. Nein, lass mir die Musik … nur noch etwas, bis ich laufen kann. Laufen? Soll ich einfach loslaufen, als ob nichts wäre. Einfach loslaufen, ohne mich umzudrehen. Wie weit komme ich in acht Wochen? Soll ich fliegen? Geld habe ich auf dem Sparbuch. Ja, mit dem Flugzeug käme ich weiter. Oder alle Freunde noch einmal sehen? Bei jedem einfach mal so vor der Türe stehen, weil ich gerade Zeit habe? Bei wem am längsten bleiben? Und die Familie? Und welchen Ort will ich unbedingt sehen? Auf den Mount Everest werde ich nicht mehr kommen. Den Zahn kann ich mir getrost ziehen.

Das Fenster bleibt zu. Das Licht hinter den Baumkronen verdunkelt sich. Und mir bleibt kalt.

Ich gehe ein paar Schritte und sehe durch den Nachbarn hindurch, der mit dem Kind an der Hand das Frühstück nach Hause trägt. Gleichzeitig lächle ich durch ihn hindurch. Fast scheint es mir, als würde alles um mich herum unsichtbar. Nur nicht durchdrehen, Madame.

Ich könnte den Brief einfach mitwaschen. Ihn in der Hose vergessen und bei 90 Grad sauberkochen. Sauber. So wird alles sein wie vorher. Das Mündliche … da scheiß doch der Geier drauf, oder so.

Als ich die Ecke erreicht habe, stehe ich vor dem Imbiss. Der hat erst drei Stunden zuvor geschlossen.
Was will ich alles essen an Dingen, die ich noch niemals aß? Nichts. Aber alles, was ich liebe, werde ich in Unmengen essen. Vermutlich werde ich in kürzester Zeit – Ha, ha – welch Ironie – in kürzester Zeit mindestens zwanzig Kilo zunehmen. Egal. Sowas von. Endlich Eis und Nudeln satt!
Mein Blick fällt auf die Litfaßsäule. Ein Plakat zur Ballnacht. Rauschende Kleider. Ja! Das will ich machen. Ein teures Kleid bestellen. Bodenlang. Ausufernd. Und auf einem Ball tanzen. Eine ganze Nacht lang. Vorher unbedingt Walzer lernen. Also doch nicht zu viel essen? Auf jeden Fall erstmal Kleider bestellen und anprobieren. Jeden Tag ein anderes. Immer über den selben Paketdienst … und dann endlich dem kleinen Fahrer mit den blauen Augen sagen, dass er mir den Tag so gut macht, wenn er bei mir klingelt. Nicht weil er etwas liefert. Sondern weil er es mit diesem Lächeln begleitet und mir jedes mal noch einen schönen Tag wünscht. Und dann werde ich ihn fragen, ob ich ihn dafür küssen darf. Nur einmal in den Flur ziehen und küssen. Da ist doch nichts dabei. Nur ein Kuss unter Kollegen sozusagen. Lieferant und Besteller, das muss doch statthaft sein.

Ich drehe mich um und sehe zurück zu meinem Haus. Der Himmel verdunkelt sich mehr und mehr. Mir fällt ein, dass ich nicht gleichzeitig jeden Tag Kleider anprobieren kann, wenn ich einfach loslaufe. Und was ist mit dem Gitarrenspieler? Ich muss ihn wenigstens einmal sehen. Ich höre ihn seit einem Jahr. Er ist ein Teil meines Lebens in dieser Seitenstraße. Das hat doch eine Bedeutung.

Mein Eckzahn bohrt sich in die Unterlippe, bis ich Blut schmecke. Ein Plan muss her. Ich hasse Pläne. Da machst du Pläne und dann kritzelt dir das Leben eine Käsekästchen mitten hinein. Oder steckt dir Urteile in deine Hosentaschen, damit sie dich raschelnd und knisternd irre machen. Aber nicht mit mir.
Ich bleibe ruhig. Laufe ganz ruhig zurück … und mache einen … nun sagen wir eine Liste für Dinge, die ich HEUTE noch tun will. Heute ist genau ein Tag. Wie viele Tage habe ich? Sieben mal acht. Meine Lieblingsaufgabe vom kleinen Einmaleins. Wie passend. Ich grinse. Gar nicht mal so viele Tage, denke ich und entscheide mich, doch bei der Wochenangabe zu bleiben. Plötzlich bin ich gar nicht mehr so froh, wie ich es am Anfang glaubte zu sein. Acht Wochen reichen ja nicht mal für einen ersten Rausch aus. Also ich meine, sollte ich mich heute auf den ersten Blick und das Hundertste Konzert Hals über Kopf verlieben, dann würde ich doch theoretisch mindestens drei Monate auf Wolke Sieben schweben können. Und jetzt fehlt mir wohlmöglich ein ganzer Monat.

Ein Umzugswagen hat zwei Häuser vor meinem eingeparkt. Hier ziehen dauernd Leute ein und aus. Fast an jedem Wochenende wechseln irgendwelche Mieter in meiner Straße. Die da tragen, sehen aus wie Profis. Blaumänner. Werkzeuggürtel. Ich bleibe stehen und sehe ihnen zu, wie sie ein Zehn-Personen-Sofa versuchen durch den Eingang zu bekommen. Hätte der eine weniger Burger gegessen, wären sie längst im Haus. Vermutlich hat er nun oben oder untenherum gefurzt … oder den Bauch eingezogen … jedenfalls sind sie drin. Und ein Stift aus einer Hosentasche draußen. Quasi vor meinen Füßen. Ich sehe mich kurz um und stecke ihn ein. Dann gehe ich weiter in Richtung meines Hauses.

Einmal am Tag sollst du etwas Verbotenes tun, sagte mir eine Freundin im letzten Jahr. Daran dachte ich eben, als ich den Stift für meine Tagesliste stahl. Stolz auf mich im anerzogenen Regelwerk.

Bevor die ersten Tropfen durch die Blattkronen gelangen, springe ich zurück in den Hauseingang und jage dabei gefühlte zehn Spatzen in die Luft. Ich mag Vögel. Und grinse dreckig. Genau das werde ich bis zum Schluss tun und – ich suche die Hauswand nach den roten Fensterrahmen ab – wenn ich Glück habe, fange ich gleich heute damit an. Dafür brauche ich keine Liste und, ich ziehe den Stift aus der Tasche, den gebe ich zurück. Ich werde statt des Verbotenen etwas Unmoralisches tun. Jeden Tag. Ich werde den Musiker verführen und den Paketfahrer küssen.

Trotz des Regens springe ich an den Straßenrand. Beuge mich hinunter und sehe noch während ich loslaufe, wie das rote Fenster aufgerissen wird und ein Schrei in meine Richtung geht. Hat er mich wirklich entdeckt?  Freude durchzuckt mich. Dann wird der Stift, der mir im selben Moment aus der Hand gefallen ist, von den Rädern des zweiten Umzugswagens überrollt.

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