Seit zwei Minuten steht Lena in der Tür und beobachtet das Mädchen hinter dem Schreibtisch. Tamara Paulik ist gerade achtzehn geworden.
Sie dreht sich mit dem Zeigefinger eine Locke ins Haar und umwickelt den anderen mit der Telefonschnur. Die Herbstsonne malt Gold- und Kupfertöne auf ihren dichten Pony und unter dem Tisch wippt ihr Fuß im Takt der Glockenschläge, die zwölf Uhr zählen und durch das gekippte Fenster in den Büroraum gelangen. Als Tamara Lena bemerkt, gibt sie ihr mit einem Wink zu verstehen, dass sie herein kommen soll. Lena bewegt sich auf den Schreibtisch zu und sieht, wie der Blick des Mädchens an ihr vorbei durch das Sicherheitsglas hindurch zum Büro gegenüber geht.
Rechtsabteilung Viktor Evermann AG für erneuerbare Energien – Sekretariat RA Dr. Heiner Schling – steht in goldener Serifenschrift auf der Tür. Auf dem Gang dazwischen rollen Aktenwagen über grauen Velourteppich, geschoben von Praktikanten, wie Tamara eine war, bis sie vor drei Wochen überraschend einen Teilzeitvertrag bekam.
Sie beendet das Telefonat und strahlt Lena an, »d-das war gestern lieb von d-dir, d-das du mich besucht hast auch d-das G-geschenk.«
»Na, hör mal, das ist Ehrensache … schließlich klettern wir seit vier Monaten zusammen. Ich weiß doch, dass du hier keine Familie hast«, Lena spürt, wie ihre Wangen sich röten, »ich bin wirklich froh, dass meine Chefin sich an der Gemeinschaftskantinen-Sache beteiligt hat, sonst hätten wir uns vielleicht nie …«, sie fächert sich mit bloßen Hand Luft zu und fährt sich linkisch durch die Stoppelfrisur, »deine Haarfarbe ist heute übrigens besonders schön. Was nimmst du dafür? Ist das Tönung oder Natur?«, sie fragt es beiläufig, sieht dabei zum Fenster hinaus und fixiert auf der anderen Straßenseite das alte Gebäude mit der Apotheke, in der sie arbeitet.
»Wegen der Kantinensache bin ich auf froh«, antwortet Tamara. Sie fährt den Rechner herunter. Dabei geht ihr Blick erneut suchend über den Gang ins gegenüberliegende Büro, »und meine Haarfarbe … das ist Natur«, mehr zu sich selbst spricht sie leiser weiter, »bloß schade, d-dass nur d-du es bemerkst«.
»Was meinst du damit?«
»Naja, ich g-glaube, ich habe mich …«
»Was hast du?«
Tamaras Hände liegen jetzt gefaltet zwischen ihren Beinen, die hin und her schaukeln. Dann lächelt sie, als schöbe sie unliebsame Gedanken fort, »ach, nichts, Lena, lass uns zum Essen gehen!«
***
»Fräulein Paulik?«, Schling steckt den Kopf durch die Tür, »kommen Sie doch mal kurz zu mir, bitte!«
Als er die Tür zu seinem Büro hinter sich zugezogen hat, zeigt er auf einen der Ledersessel, »Bitte setz dich doch!«
Während sie versucht, ihren Herzschlag zu beruhigen, lässt Schling die Jalousien zum Gang herunter und verschließt die Tür, »hier drinnen können wir ja auf das Sie verzichten«, lacht er vertraulich. Er hat frisches After Shave aufgelegt und das Hemd leicht geöffnet. Seine Krawatte hängt über der Lehne des zweiten Sessels.
Auf seiner Seite vom Bürohaus geht die Sonne unter. Der Himmel liegt in den letzten Zügen von feurigem Rot. Schling ist braun gebrannt, sein Körper vom Klettern trainiert. Feine Härchen kringeln sich über dem dritten Knopf seines Hemdes.
Tamara spürt ein Ziehen. In der Kletterhalle war er ihr zum ersten Mal aufgefallen. Zu spät hatte sie erkannt, dass es ihr Chef war, den sie bis dahin kaum zu Gesicht bekommen hatte. Anzug und Krawatte verändern.
»Du hattest Geburtstag, nicht wahr?«, fragt Schling und geht zur Schranktür an der Fensterseite, gegen die er leicht tippt. Sie öffnet sich lautlos und gibt eine Bar frei. Lichter gehen flackernd an, »das heißt du bist eine Jungfrau«, dabei lacht er leise.
Er mag ihre helle Haut, das leuchtende Haar, ihre hellen Augen, die seit der Begegnung in der Kletterhalle immer wieder versuchen, seinen Blicken auszuweichen, um sich nicht zu verraten. Doch er hat sie längst durchschaut. Spürt ihren Herzschlag, wenn er sie zum Diktat bittet, riecht ihre Weiblichkeit, wenn er sich über sie beugt, um ihr etwas am Bildschirm zu erklären. Er weiß es längst und er genießt. Jedes Zeichen ihres Verlangens lässt ihn größer werden, lässt ihn seine mickrigen 168 Zentimeter für einen Moment vergessen. Dass dieses kleine Mädchen vom Lande, das eine Delikatesse war, ohne es zu wissen, auf ihn abfuhr, dass sie Wachs in seinen Händen werden und es ihm ein Leichtes sein würde … »darauf sollten wir anstoßen, findest du nicht?«
***
»Hey, ich brauche dich! Lässt du mich rein?«, flüstert eine Männerstimme durch die Türsprechanlage. Lena drückt auf den Öffner. Das Summen hallt durchs Treppenhaus. Kurz darauf öffnet sie. In ihrem Blick liegen Überraschung und Furcht.
»Louis, verdammt, was machst du hier? Ich denke, du sitzt noch für mindestens zwei Jahre?«
»Freust du dich denn gar nicht? Liebes, komm her und drück mich!«, großspurig macht er sich auf ihrer Couch breit, die Arme auf der Rückenlehne weit von sich gestreckt.
»Spar‘ dir deinen Dackelblick!«, sie lehnt mit in die Hüfte gestemmten Armen am Küchentisch, »du weißt genau, wie wenig ich von deinem Job halte. Mir wäre es lieber gewesen, wir hätten gemeinsam unseren Abschluss gemacht und du würdest dein Geld wie jeder normale Mensch verdienen. Mama und Papa würden sich im Grabe umdrehen, wenn sie in einem liegen würden. Du kannst froh sein, dass dich die Bullen immer nur wegen der Dealereien drankriegen. Ich besorge dir jedenfalls nichts mehr, wenn du deswegen hier sein solltest!«
Louis sieht in die Augen seiner Zwillingsschwester und grinst siegessicher. Dann springt er auf, und noch bevor sie sich dagegen wehren kann, umfasst er ihre Hüften, hebt sie hoch und dreht sich. Dreht sich solange, bis beide lachend und erschöpft auf die Couch fallen, gefangen in der Erinnerung süßer Kindertage, als sie noch nicht den selben Mädchen hinterher sahen und als gestohlene Kirschen ihr einziges dunkles Geheimnis waren und als vor dem Einschlafen eine warme Hand über ihre Gesichter glitt und die Stimme ihrer Mutter Lieder sang. Solange Lieder sang, bis beide eingeschlafen waren. Manchmal noch darüber hinaus.
»Na Liebes, du kannst ruhig zugeben, dass ich dir gefehlt habe«, seine Stimme klingt plötzlich sanft. Er merkt, wie Lena sich an ihm festhält. So fest sie kann. Ihr Körper wird von leisen Schluchzern geschüttelt, und die Traurigkeit um ihrer beider Verlust sucht sich heiß in seinem Nacken ein Nest.
Er streicht über ihren Jungenkopf, »Shhhht, meine Kleine, alles wird gut«
»Ja, ich vermisse dich, Louis, wenn du nicht da bist. Ich mache mir Sorgen um dich. Bei jedem deiner Aufträge habe ich eine Heidenangst, dass etwas schief geht. Dass irgendwann du Derjenige auf der anderen Seite bist. Verstehst du, Louis. Ich habe doch nur dich«, während Lena spricht, gibt sie sechs schaumig verquirlte Eier zu den in reichlich Butter und Öl gedünsteten Zwiebeln in die Pfanne, würzt mit einer Prise Himalayasalz und einer halben Umdrehung der schwarzen Pfeffermühle. Dann schiebt sie in ruhigen Bewegungen das gestockte Ei vom Pfannenrand, bis die perfekte Konsistenz erreicht ist, würzt noch einmal nach und streut den zerkleinerten Schnittlauchhalm über das fertige Rührei.
Louis stellt sich hinter sie und flüstert, »Lena, beste aller Schwestern ever, wenn du Männer lieben würdest, könntest du dich nicht retten vor verliebten Hungerleidern wie mir«, dann langt er an ihr vorbei, angelt nach einem Viertel der zwei duftende Toastscheiben, die Lena um das fertige Rührei legt und fängt sich einen Schlag auf seine Hand ein.
»Ab, an den Tisch! Und sei froh, dass hier kein anderer Hungerleider sitzt, du bester Bruder ever!«
***
»Lena, ich brauche deine Hilfe«, sagt Louis nach einer Weile und schaltet das Radio ein. Gerade so laut, dass es ihn übertönt, wenn er leise spricht, ohne den Schlaf der Nachbarn zu stören. Dann wischt er mit dem letzten Stück Toast über den Teller und hält es grinsend Lena hin, »hier, du sollst schließlich auch nicht leben, wie ein Hund«, er schiebt den Happen in ihren Mund und wird wieder ernst, »diese Evermann AG – die ist doch bei dir am Platz. Dieses moderne Bürohaus, das sich erneuerbare Energien auf die Haustür geschrieben hat«
»Ja, da arbeitete doch … äh, was ist mit denen?«, Lenas Stimme ist zu laut. Sofort hält sie sich die Hand vor den Mund. Dann flüstert sie, dicht an Louis’ Ohr, »das ist doch eine gute Sache. Ich bin absolut gegen Atomstrom, gehe zu jeder Demo in der Stadt. Du weißt doch, dass ich schon seit Jahren Ökostrom beziehe, um den Regenwald zu retten, und …«
»Ja, ja, ja, Lena. Schon gut. Das weiß ich alles. Kannst du ja auch machen. Aber bei denen hockt ein Rechtsverdreher, mit dem einer meiner Kunden eine Rechnung offen hat. Und du weißt, was das heißt«, Louis‘ Stimme wird zu einem hauchenden Sing-Sang, »Lena, wenn einer von denen eine Rechnung offen hat. Das weißt du, Lästerschwein, liebes. Wenn die zu Louisboy kommen, dann ist das ihr allerletzter Auftrag in einer Sache, das weißt du, nicht wahr?«
»Louis! Höre sofort mit diesem Psychopathen-Gangsterton auf, das macht mir das Angst. Rede nicht so mit mir! Wir sind in keinem verdammten Kinofilm. Ich bin deine Schwester und du hast einen unmoralischen Job. Nicht mehr und nicht weniger«
»Dein Handy vibriert«
»Wer verliert?«
»Liebes, deine Handy vibriert. Du erhältst einen Anruf«
»Um diese Zeit? War ich für den Notdienst eingeteilt?«, Lena springt auf und greift nach dem Telefon, das unruhig auf den Fliesen des Couchtisches schwimmt.
»Tamara, um Himmels Willen, was ist passiert?
–
Waaas? Oh, verfluuucht – dieses Schwein!
–
Warte, warte, beruhige dich. Oh mein Gott, dieses Scheusal! Bleib, wo du bist. Rühr dich keinen Zentimeter weg. Ich bin sofort bei dir.«
***
»Dieser feine Herr ist ein krankes Schwein, Louis. Dass das ausgerechnet der Typ ist, wegen dem ich für dich spionieren sollte, kann mir nur Recht sein. Ich weiß auch schon, wie wir das machen. Und wenn ich dafür hinter Gitter muss, ist mir das gerade egal. Dafür, was er Tamara …«
»Tamara? Sollte es da bei mir klingeln, wenn du so euphorisch aufgestellt bist, Lena? Was hat es mit dieser Tamara auf sich? Hm? Komm, erzähl es mir!«
***
Tamara sitzt auf einem Kissen. Ihre Haare lässt sie weit ins Gesicht fallen. Der linke Unterarm schmerzt, wenn sie ihn zum Tippen auf dem Tisch ablegt. Sie beißt die Zähne zusammen. Als ihr Blick über den Gang geht, weicht die Farbe über den Gelenkknochen ihrer Fäuste. Schmerzend drücken sich Fingernägel in ihre Handflächen, treiben Tränen in die Augen. Die brünette Kollegin, die bei ihm verschwand, ist aus der Etage unter ihr. Schling lässt die Jalousien hinab. Kurz hält er inne, sieht zu ihr hinüber, mit diesem Blick, der ihr die Luft nimmt und ihren Unterleib ziehen lässt. Immer noch und immer mehr. Rasch öffnet Tamara ihre Fäuste und lächelt. Dann legt sie ihre Rechte auf den Verband, der unter dem Ärmel die Male versteckt.
***
»Sie wird wieder zu ihm gehen, Louis. Morgen schon.«
Lena reibt gedankenverloren ein Stück Parmesan, während Louis in der Pfanne rührt. Er gießt ein Glas Soave über den Reis, löst ihn vom Boden und nimmt einen Schluck aus der Flasche.
»Hast du das Mittel?«
»Ja, Louis, wie abgesprochen. Nicht nachweisbar. Geruchlos. Ohne Geschmack. Klar, wie Wasser. Und dein Klient stirbt an einem Herzanfall. Äh, ich meine, der Kunde deines Klienten, oder … wie heißt das eigentlich, Louis?«
»Nenn ihn einfach weiter Scheißkerl, Lena, das passt am Besten!«
***
Ich bin jetzt sein Mädchen, hat er gesagt.
Die Brandmale jucken, als sie ihren Arm ausstreckt, um den Strauß zu berühren, der seit gestern auf ihrem Schreibtisch steht.
Er wollte mir nicht wehtun. Hat sich in seinem Begehren nur vergessen. Wie gut, dass Lena es verstand nach ihrem ersten Schrecken. Überhaupt ist sie eine tolle Freundin. Versteht was von wahrer Liebe, fragt nicht nach dem Warum.
Tamara denkt an sie und lächelt, froh darüber, von ihr Hilfe bekommen zu haben.
Sie sitzt ja an der Quelle, kennt sich aus mit Wundversorgung. Liebeswunden.
Wenn du micht liebst, erträgst du mich, hatte Schling ihr ins Ohr geflüstert und ihr gezeigt, wie Liebe passiert …
***
»Wenn ihr euch das nächste mal seht. Bitte gib ihm von den Tropfen. Sie werden ihn … sanfter machen. Vertrau mir«, flüstert Lena über den Tisch hinweg, als sie in der Kantine gemeinsam zu Mittag essen. Das Fläschchen mit dem Lavendelbild verschwindet zwischen Pflastern, Wundsalbe, Tampons und zwei Lippenstiften in Tamaras Kosmetiktasche.
***
»Hast du die Tickets gebucht, Louis?«
Er nickt.
»Mir ist nicht ganz wohl bei dem Gedanken, sie damit allein zu lassen.«
Lena packt sämtlich Klamotten auf das Bett. Daneben steht der geöffnete Koffer. Sie schüttelt resigniert den Kopf.
»Du hast doch ein Geständnis verfasst, Liebes, wir schicken das rechtzeitig ab, sobald wir in Sicherheit sind. Mich hat in diesem kalten Land eh nicht mehr viel gehalten, also macht es nichts, wenn wir jetzt auf nimmer Wiedersehen verduften.«
»Und er ist wirklich so ein Wirtschaftsschmarotzer, wie du gesagt hast?«
»Bekommst du jetzt Skrupel? Soll ich dich daran erinnern, was er deiner kleinen Flamme …«
»Nein! Schon gut …«
***
Tamara beobachtet am Bildschirm die Anzeigentafeln der Abflüge. Sie sitzt am Schreibtisch und sieht zum Fenster, an dem Lena so oft stand. Wo sie lächelte und ihre Mundwinkel zuckten, wenn sie nervös wurde.
Wieso hat sie mir erst so kurzfristig von ihrem Urlaub erzählt?
»Fräulein Paulik?«, Schling steckt den Kopf durch die Tür, »kommen Sie doch mal kurz zu mir, bitte!«
Tamara wirft einen vorletzten Blick auf den Monitor. Boarding steht jetzt bei Flug Nr. LH500, Rio de Janeiro.
Tschüss, Lena, ich will nicht, dass er es sanfter macht, auch wenn du das nicht verstehst
Tamara sieht, wie im Büro gegenüber die Jalousien runtergehen, dann kramt sie in ihrem Kosmetiktäschchen nach der Flasche mit dem Lavendelbild.
Aber ich will, dass ich sanfter bin. Ich muss braver werden, wenn ich für immer sein Mädchen sein will. Das hat er gesagt.
Tamara öffnet den Verschluss. Riecht an dem Fläschchen.
»Er trifft die Brünette nicht mehr, Lena«, flüstert sie und tropft die von Lena empfohlene Dosis in ihr Wasserglas. Auf dem Bildschirm liest sie started – dann hebt sie das Glas.
»Prost, Lena – und danke für alles … ich stottere auch gar nicht mehr.«
Tamara setzt das Glas an den Mund und guckt in den Himmel, wir wissen beide, wie sich Liebe anfühlt, Lena, genieß deinen Urlaub.